Full text: Für die Mittelstufe (Klasse III - I der Realschulen) (Gedichtsammlung, [Schülerband])

Aus dem Nibelungenlied. 
2. (IL) Wie Sigfrid Kriemhilden zuerst sah. 
1. An einem Pfiugstmorgen sah man rings sich nahn 
der wackren Helden viele stattlich angetan 
(fünftausend oder mehr noch) zum Fest in Fröhlichkeit. 
Da gab es um die Wette laute Freude weit und breit. 
2. Der Landesherr bedachte, war's ihm doch längst bekannt, 
wie so recht von Herzen der Held aus Niederland 
seine Schwester liebte, ob er sie nie gesehn: 
der Jungfraun höchste Schönheit mußte man ihr zugestehn. 
3. Da sprach der Degen Ortwin zum König kurz bedacht: 
„Denkt Ihr das Fest zu feiern mit höchster Ehr' und Pracht, 
laßt die holden Jungfraun uns schaun im Königssaal, 
die wir bei den Burgunden in Ehren halten allzumal! 
4. Was wäre Mannes Wonne, die ihm zum Herzen spricht, 
wären's holde Jungfraun und edle Frauen nicht? 
So laßt denn unsre Gäste Eure Schwester sehn!“ 
Den Helden mehr zuliebe konnt' ein Rat wohl nie geschehn. 
5. Und es sprach der König: „Dem Rate folg' ich gern!“ 
Jeder hörte freudig den Entscheid des Herrn. 
Frau Uten und Kriemhilden entbot er und den Fraun: 
sie sollten heut bei Hofe all die guten Helden schaun. 
6. Sie holten aus den Schreinen all ihr Prachtgewand. 
Was sich in den Truhen an bester Kleidung fand 
und Gürteln, goldnen Ringen, das ward zurechtgelegt: 
da schmückte manche Maid sich, wie sie's gern vor Rittern pflegt. 
7. Es gab König Gunther der Schwester zum Geleit 
hundert seiner Helden, die ihrem Dienst geweiht, 
ihr und den Verwandten, mit Schwertern in der Hand. 
Das war das Hofgesinde für sie in der Burgunden Land. 
8. Mit ihr kam auch Ute in königlicher Zier. 
Als Begleiterinnen dann nachfolgten ihr 
in überreichen Kleidern mehr denn hundert Fraun. 
Ihrer Tochter folgten Jungfraun wunderhold zu schaun. 
9. Die Schönen nun verließen ihren Frauensaal. 
Im Hofe mächtig drängten die Helden allzumal; 
sie hofften, endlich möcht' es heute doch geschehn, 
daß sie freudig durften die edle Königstochter sehn. 
10. Nun ging die Minnigliche, wie das Morgenrot 
strahlt aus trüben Wolken. Da wich die Herzensnot 
von ihm, der sie im Herzen getragen lange Zeit: 
er sah die Minnigliche stehn in voller Herrlichkeit.
	        
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