Full text: Für die Mittelstufe (Klasse III - I der Realschulen) (Gedichtsammlung, [Schülerband])

2 Aus dem Nibelungenlied. 
11. Von ihrer Wat erglänzte mancher edle Stein, 
die eigne Rosenfarbe gab wunderbaren Schein. 
Jeder mußte sagen, daß er fern und nah 
(hätt' er's auch anders wollen) solche Schönheit nimmer sah. 
12. Dem Monde, der verdunkelt aller Sterne Licht 
und dessen milde Klarheit die Wolkennacht durchbricht, 
dem Monde glich die Hohe vor allen Frauen gut. 
Bei ihrer Schau empfand wohl mancher Ritter höhern Mut. 
13. Die stolzen Kämmerlinge schritten ihr voran, 
und nun wurde kühner manch wackrer Rittersmann; 
wo sie die Jungfraun sahen, drängten alle hin. 
Sigfrid ward da fröhlich und traurig wiederum im Sinn. 
14. Er dacht' in seinem Herzen: „Wie könnt' es je geschehn, 
daß ich dich gewönne? Wohl lass' ich mir's vergehn. 
Soll ich dich aber meiden, wär ich lieber tot.“ 
Bei solcherlei Gedanken ward er oftmals bleich und rot. 
15. Sigelindens Sohn stand von Schönheit so bestrahlt, 
wie wenn der Held wäre auf Pergament gemalt 
vom kunstreichsten Meister: man mußte sich's gestehn, 
man hatte einen Jüngling also schön noch nie gesehn. 
16. Die Kammerherrn geboten nicht zu sehr zu nahn, 
sondern fern zu stehen: das ward deun auch getan. 
Gerne sahn die Ritter den edlen Stolz der Fraun: 
sie durften manche Jungfrau im Schmuck der Sittsamkeit erschaun. 
17. Da sagte Herr Gernot: „Der Euch hilfsbereit, 
lieber Bruder Gunther, seinen Dienst geweiht, 
ihm erwidern mögt Ihr die Huld williglich 
vor allen diesen Recken; des Rates nimmen schäm' ich mich. 
18. Laßt den Helden nahen unserer Schwester hier, 
daß ihn die Jungfrau grüße: den Nutzen haben wir. 
Ihn freundlich mag sie grüßen, der nie ein Mann erschien: 
diesen hohen Helden, glaubt mir, wir gewinnen ihn!“ 
19. Des Wirtes Brüder gingen, wo der Recke stand, 
und sprachen da zu Sigfrid, dem Herrn aus Niederland: 
„Der König hat verstattet, Ihr dürft näher gehn! 
Frau Kriemhild will Euch grüßen; Euch zu Ehren ist's geschehn.“ 
20. Das Herz dem Helden Sigfrid vor hoher Freude schwoll: 
er war in heller Wonne und nicht mehr trauervoll; 
denn Utens Tochter durft' er ins klare Auge schaun. 
Sie grüßte Sigfriden mit der Zucht edler Fraun.
	        
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