Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

Größere epische Dichtungen. 
157 
Noch mit Hochzeit zu befassen. 
Unvermählt, und eben stehend 
50 In des Lebens schönsten Tagen, 
Ziemt es Euch, die Hand der schönen 
Königstochter anzutragen · · 
„Da liegls gradel Daß sie schön ist, 
Vansor wer verdiungt mir dies?⸗ 
Sagte der Kalif, indem er 
Einst die Flugel hängen ließ. 
Doch, man läßt den Liebesgott ja 
Mit berbundnen Augen laufen; 
Nun so will ich's denn auch wagen, 
60 Eine Kat im Sac zu kaufen! 
Und so kehrt er zu der fule, 
Die da saß in bangem Zagen, 
Um in. wohlgesetzter Rede 
Seine Hand ihr anzutragen. 
„Retter meines Lebens! rief sie, 
Tief gerührt und hoch erfreut, 
„Deinem edelmüth gen Herzen 
Wird der Lohn vielleich noch heut. 
Wisset: nah hier dem Gemache 
70 Ist ein großer, prächt'ger Saal, 
Wo in jedem Monal einmal 
Kaschnur hält ein festlich Mahl. 
Mit den schändlichen Genossen 
Schwelgt er dann in Wein und Speise, 
Und die jüngsten Missethaten 
Peldet Jeder rings im Kreise. 
Eine Mauerlüce weiß ich, 
Vo ich ofmals sie belauschte, 
Wenn die Schaan mu launm Lachen 
Ihre Frevelteden tauschte. 
Eines guten Schicksals Fugung 
Hat Euch heu hierhergebracht; 
Denn sie sind zum Mahl versammelt 
Eben jeht, in dieser Nacht. 
Lomm ich führ Euch der Lude! 
Ja, mir ahnt, daß im a 
Den heut Kaschnur wird erstalten, 
Er das Wort des Zaubers spricht.“ 
Ven der dule so geleitet, 
90 Schritten unsre Störche lange, 
At sih an den Mauern stoßend, 
dort in einem finstern Gange. 
Endlich sahn sie hruen Schimmer 
Fern aus einem Spalte dringen, 
Und schon horten s delnt 
daut Gespraͤch und Glaserküngen. 
Angelangt hieß dort die dul⸗ 
Sie in einem Winkel stehn, 
Wo den Prachtsaal sie mi Staunen 
100 Durch die Lücke konnten sehn. 
Die verzierte Dede ruht⸗ 
Hoch auf Marmorsäulenreih'n, 
Candelaber mit vielfarb'gen 
Lampen gaben bunten Schein, 
Längs den Wänden zog in Vasen 
Sich ein duft'ger Blumenkranz, 
Hundertfach in hohen Spiegeln 
Strahlte wieder all der Glanz; 
110 Um die runde, reichbesetzte 
Tafel mitten in dem Saal 
Standen Sessel, sieben Männer 
Saßen drauf beim üpp'gen Mahl. 
Sechs schon hatten jetzt beendigt 
Ihre teuflischen Geschichten, 
Und nun kam die Reih' an Kaschnur, 
Seine Thaten zu berichten. 
„Vieles hätt ich wohl zu melden,“ 
Sprach er; „doch von allen Thaten 
120 Ist mir eine ganz besonders 
Zum Gedeihn und Ruhm gerathen. 
Wißt: auf Bagdad's mächt'gem Throne 
Waltet Mizra setzt, mein Sohn, 
Und dem stolzen Chasid gab ich 
Den ihm zugedachten Lohn. 
Eine Dose meines Pulvers 
Hat der dumme Tropf erhandelt 
Und mit seinem Großwessir sich 
In ein Störchepaar verwandelt. 
130 Ihres Zauberworts verlustig, 
Mögen sie an Sümpf und Seen 
Fürder auf den Stelzenbeinen 
Sich nach Herzenslust ergehen, 
Sich mit Fröschen und mit Schlangen 
Den verwöhnten Magen spicken 
Und von Bagdad's hohen Dächern 
Auf entschwundne Freuden blicken!“ — 
„Das ist prächtig!“ schrien Alle 
Zu der Gläser Lustgeklinge. 
140 „Aber sprich!“ so rief sein Nachbar; 
„Welches Wort ward ihre Schlinge?“ — 
„VNun, das Wort,“ versetzte Mansor, 
„Däucht mir, wählt' ich ganz geschickt; 
Mit dem röm'schen Wort mutabor 
Hab' ich glücklich sie umstrickt.“ 
208. Sechster Gesang. 
Als dies Wort die Störche hörten, 
Lauschend an der Mauerlücke, 
Hal! wie sprang ihr Herz vor Freude 
Ob dem heißersehnten Glücke! 
Niemals war so schön und reizend 
Ihrem Ohr Musik erklungen, 
Nie so süß ein Gruß der Liebe
	        
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