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Beschreibende Prosa.
wo der Kampfplatz war, in länglichen, immer
weitern Kreisen über einander. Alle diese
Sitze sind mit weißem Marmor bekleidet;
nichts ist verfallen oder zerstört; denn man
hat auf eine sehr lobenswerthe Weise Sorge
getragen, das Schadhafte immer genau zu
ergänzen. Die Marmorstufen des Volks, die
Logen der hohen Obrigkeiten scheinen auf die
zu warten, die sie einnehmen sollen, und
versetzen uns unwillkürlich, wenn wir einsam
auf ihnen herumsteigen, in das ganze Leben
der alten Zeit. Da die Sitzstufen zu hoch
sind, um auf ihnen emporzusteigen, so wer—
den ihre Reihen von schmalen, bequemen
Treppen durchschnitten. An gleichmäßig ver—
theilten Stellen öffnen sich die Gänge und
Treppen, auf denen man in den innern
Räumen des Amphitheaters zu seinen höhern
Sitzen emporsteigt, in den weiten Kessel, den die
Stufenreihen bilden. Der Porticus, der ge⸗
wöhnlich bei solchen Gebäuden über der höch—
sten Sitzstufe, und überhaupt den höchsten
Raum einnehmend, im Ringe das Ganze
umschloß, fehlt hier und von der Mauer,
welche ihn trug, und welche die weiteste und
höchste, die äußere Ringmauer des Amphi—
iheaters war, steht nur noch ein Stuüͤck an
der Nordseite. Mit gutem Grunde vermuthet
Goethe, daß sie niemals völlig gestanden
habe; denn die gute Erhaltung des innern
Theils des Gebäudes ließe sich sonst, bei der
fast gänzlichen Zerstörung des äußern, kaum
ohne Willkuͤr erklären.
Wir wandelten lange in den Gewölben
welche man für die Kerker hält, wo die
wilden Thiere, die man zum Kampf aufführte,
eingesperrt waren, so wie in den Corridoren
und auf den Treppen und Sitzstufen, um
das große Römerdenkmal recht sicher im
Gedächtnisse mitzunehmen. Auf der alten
Kampfebene fanden wir ein kleines hölzernes
Tagestheater aufgeschlagen, vor welchem das
Volk auf den siteinernen Stufen sitzen muß.
In die Hallen des Erdgeschosses haben sich
rundum Schlosser, Schmiede und Krämer einge⸗
nistet, und verrichten darin ihre geräuschvollen
Tagesarbeiten. Scholler.
Würde; die Schwere des Körpers ruht au
dem rechten Beine. Das edle, kräftige Ant
sih isi eiwas nach der Rechten gewandt, doch
sieht man es fast voll; so sehen die Augen
grade aus, wie über eine versammelte Volls
menge, die er belehren will. Die recht
Hand ist erhoben und deutet zur Seite nach
Dem, der da kommen soll; die linke hält
nachlässig ein aus wildem Holze zusammen
gefuͤgtes Kreuz. Die Gestalt ist fast nadt
nur um die Mitte des Körpers ist ein leichtes
Gewand gegürtet, das über die linke Schulter
geht; darüber schlingt sich ein Fell um die
Huͤften. Ein Lamm liegt zu seinen Füßen an
die Erde geduct. Hinter ihm stürzt ein kleine
Waldbach zwischen Gestein durch die Wildniß
Nach Zeichnung und Colorit muß man
das Gemaͤlde unter Tizian's frühere Werl
setzen. Die Leinwand, worauf es gemal
ist, besteht aus drei Stücken, die zusammen—
gesetzt sind. Einige, erzählte uns der Auf
seher, glaubten daher, der Künstler habe e
sehr fruh gemalt, zu einer Zeit, wo er noch
nicht Geld genug besessen habe, ein so gro—
ßes Stück Leinwand zu kaufen. Scholler.
40. Das Kloster.
Ein Gemälde von Ruysdael.
Jalob Ruysdael, geboren zu Haarlem 1635
fleißig arbeitend bis 1681, ist als einer der
vortrefflichsten Landschaftsmaler anerkannt
Seine Werke befriedigen vorerst alle Forde⸗—
rungen, die der außere Sinn an Kunsiwerl
machen kann. Hand und Pinsel wirken mil
größter Freiheit zu der genausten Vollendung
Licht, Schatten, Haltung und Wirkung läßt
nichts zu wuͤnschen übrig. Hiervon überzeug!
der Anblick sogleich jeden Liebhaber und
Kenner. Gegenwärtig aber wollen wir ihn
als denkenden Künstler, ja als Dichter be—
trachten, und auch hier werden wir gestehen
daß ein hoher Preis ihm gebühre.
Eines seiner Bilder, unter dem Namen
des Klosters berühmt, hat bei einer reichen,
anziehenden Composition die Absicht, im
Gegenwärtigen das Vergangene darzustellen,
und dies ist auf das Bewunderungswürdigste
erreicht, das Abgestorbene mit dem Lebendigen
in die anschaulichste Verbindung gebracht.
Zu seiner linken Hand erblickt der Be
schauer ein verfallenes, ja, verwüstetes Kloster
an welchem man jeboch hinterwärts wohl
I
39. Johannes der Täufer in der Wüste.
Gemälde von Tizian in Venedig.
Der Vorläufer des Erlösers ist im besten
Mannesalter dargestellt, mit lockigem Haar
und kurzem Bari. Er steht aufrecht, voll