Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

Lehraufsätze. 
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denn auch, und das soll mir kein Mensch 
verbieten. 
Habe ich nicht heute eine Menge Holz ge⸗ 
hackt bhis zur Abenddämmerung; und nun 
gehe ich wieder aus und halte die Stadt in 
Ordnung. Wie Mancher, der kein Holz ge— 
hackt und überhaupt Nichts gehackt und ge— 
macht hat, und wie mancher Andere, der 
nur rechnen oder schreiben oder denken mußte, 
wovon doch die Knochen nicht müde werden, 
liegt nun schon im warmen Federbette, und 
es ist ihm vielleicht Dieses und Jenes nicht 
recht, indeß mir der schneidende Morgenwind 
recht sein muß. Wenn nun so Einer mich 
rufen hört, so denkt er doch wohl, es sei 
ihm behaglicher, auf der weichen Stätte zu 
ruhen, als wie in den kalten Straßen her— 
umzulaufen und nützliche Wahrheiten bekannt 
zu machen. Und das dient ihm vielleicht 
dazu, daß er sein Gutes besser erkennt; und 
wer die Menschen ihr Gutes besser erkennen 
lehrt, der ist doch ein nothwendiger Mensch 
im Staate, wie der Herr Bürgermeister sagt. 
Wer das nicht einsehen kann, der mag 
überall wenig einsehen können. Ich möchte 
es nicht verantworten, wie es in der Welt 
hergehen wuͤrde, wenn es keinen Nachtwäch— 
er gabe. Jede Nacht schreie ich mir die 
Zunge müde, um heilsame Lehren zu geben. 
eiüch hören nicht Viele darauf, und die 
Meisten schlafen dabei; aber, lieber Himmel, 
wie manche guten Lehren werden nicht ge— 
hört, und wie manche werden verschlafen. 
Was kann ich dasir? Und dabei bewache 
ih die Menschen und ihre Besitzungen. Wohl 
ist es sonderbar, ich wache für das Geld, für 
die Schätze und für die Häuser der Leute 
und bin selbst so arm, fast so arm, wie ein 
Känsehirt, und habe kein Geld und keine 
Schäße und nicht einmal ein eignes Haus. 
Aber da gehts mir grade wie den Könsgen; 
in guter König wacht für die Ruhe des 
Landes und hat selbst leine Ruhe. Ists doch 
auch sonst nichts Seltenes, daß Leute elwas 
besorgen und verwalten, was sie selbst nicht 
haben Der Hirt hütet Heerden und hat 
gewöhnlich selbst kein Vieh, der Schuhmacher 
hat oft die aältesten Schuhe, der Schneider 
die dürftigste Kleidung uͤnd der Mann, der 
den Leuten die Haare kraus und wunderlich 
macht, den ungeschmücktesten Kopf. Nur 
wär' es nicht gut, wenn s durchaus so sein 
sllte; denn wenn die, welche r den Ven 
stand und die Tugend Anderer zu sorgen ba 
ben, selbst keinen Verstand und keine Tugend 
hätten, so müßte man doch „Wehe“ über sie 
rufen. Das soll über mich Keiner; denn so 
arm ich bin, so treu will ich für Euch wa— 
chen, Ihr Armen und Ihr Reichen. Nur 
verachtet mich nicht und überlegt, wie schwer 
es ist, ein guter Nachtwächter zu sein. Ihr 
müßt's doch wohl vernehmen, daß nicht alle 
meine Amtsbrüder so recht fähig und tüchtig 
sind. Ich will das nicht gesagt haben, um 
mich zu rühmen; die Gabe des Vortrags 
wird nun einmal nicht Jedem zu Theil, und 
in der Rede sind nicht alle gleich stark. Es 
beweist aber doch, wie viel zu meinem Amte 
gehört. Auch gibt es für einen Mann, der 
uͤber seine Geschäfte nachdenkt, allerlei Be— 
denklichleiten und Zweifel. Ich habe das im 
Anfange, als ich meinen Dienst antrat, recht 
wohl erfahren. 
Wie viele Besorgnisse machte es mir da, 
daß ich bloß rufen mußte: „Höret, ihr Her— 
ren!“ und daß ich die Frauen nicht nennen 
durfte. Es that mir immer herzlich leid. 
„Sie gehören auch dazu,“ dachte ich und 
war mir recht bange, daß sie mir es übel— 
nehmen möchten; und wenn eine mich am 
Tage scharf ansah, so meinte ich, sie wollte 
mir Vorwürfe machen. Ich beruhigte mich 
dadurch, daß sie doch mit hörten, wenn ich 
sie gleich nicht mit nenne, wie sie denn auch 
in andern Fällen, wo sie gleichfalls nicht ge⸗ 
nannt werden, mit hören und mit geschäftig 
sind. Und überdies, wenn man erst im 
Amte ist, so geben sich die Bedenklichkeiten, 
so, daß ich jetzt im Stande bin, auf die 
Worte: „Ihr Herren“ einen rechten Nach— 
druck zu legen, als thät ich's den Weibern 
zum Trotze. Aber das thue ich gewiß nicht. 
Auch war es mir zuerst oft ärgerlich, daß ich 
oft die Unwahrheit sagen mußte; ich kann 
das nun nicht leiden und gewiß, es ist recht 
schlimm, wenn man seines Amtes wegen Un— 
wahrheiten sagen soll. Es war mir stets 
peinlich, wenn ich im Winter des Morgens 
um vier Uhr nach Hause ging und öffentlich 
behaupten mußte: „Der Tag vertreibt die 
finstre Nacht.“ — „Es ist doch nicht wahr,“ 
sagte ich dann immer ganz leise hinterher. 
Wie ichs aber verbessern wollte, ja, da kam 
ich schön an. Ich hatte wohl laum dreimal 
gerufen: „Es ist zwar noch ganz finstre Nacht, 
aällein ich hab' genug gewacht,“ da mußte ich 
zum Bürgermeister kommen. „Ihr unver— 
schämter Kerl!“ fuhr er mich an, „was macht
	        
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