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das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft
zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen
Wege in Griechenland zu gebären. In derjenigen Lebensepoche, wo die
Seele sich aus der äußeren Welt ihre innere bildet, von mangelhaften
Gestalten umringt, hatten Sie schon eine wilde und nordische Natur in
sich aufgenommen, als Ihr siegendes, seinem Material überlegenes Genie
diesen Mangel von innen entdeckte und von außen her durch die Bekannt¬
schaft mit der griechischen Natur davon vergewissert wurde. Jetzt mußten
Sie die alte, Ihrer Einbildungskraft schon aufgedrungene schlechtere Natur
nach dem besseren Muster, das Ihr bildender Geist sich erschuf, korrigieren,
und das kann nun freilich nicht anders als nach leitenden Begriffen von¬
statten gehen. Aber diese logische Nichtung, welche der Geist bei der
Neflexion zu nehmen genötigt ist, verträgt sich nicht wohl mit der ästhe¬
tischen, durch welche allein er bildet. Sie hatten also eine Arbeit mehr,
denn sowie Sie von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so mußten
Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen und Gedanken
in Gefühle verwandeln, weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann.
So ungefähr beurteile ich den Gang Ihres Geistes, und ob ich recht
habe, werden Sie selbst am besten wissen. Was Sie aber schwerlich
wissen können (weil das Genie sich immer selbst das größte Geheimnis ist),
ist die schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinktes mit den
reinsten Nesultaten der spekulierenden Vernunft. Beim ersten Anblicke
zwar scheint es, als könnte es keine größeren Gpposita geben, als den
spekulativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der
Mannigfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem
Sinn die Erfahrung, und sucht der letzte mit selbsttätiger freier Denkkrast
das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem
Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist nur mit Individuen
und der spekulative nur mit Gattungen zu tun. Ist aber der intuitive
genialisch und sucht er in dem empirischen den Eharakter der Notwendig¬
keit auf, so wird er zwar immer Individuen, aber mit dem Eharakter der
Gattung erzeugen,' und ist der spekulative Geist genialisch, und verliert
er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar
immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit ge¬
gründeter Beziehung auf wirkliche Objekte erzeugen.
Aber ich bemerke, daß ich anstatt eines Briefes eine Abhandlung
zu schreiben im Begriff bin — verzeihen Sie es dem lebhaften Interesse,
womit dieser Gegenstand mich erfüllt hat, und — sollten Sie Ihr Bild in
diesem Spiegel nicht erkennen, so bitte ich sehr, fliehen Sie ihn darum nicht.
Meine Freunde sowie meine Frau empfehlen sich Ihrem gütigen
Andenken, und ich verharre hochachtungsvoll
Ihr gehorsamster Diener
F. Schiller.