116 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, b) Griechische Sagen.
dankbar an, denn es gefiel uns über die Maßen. So brachten wir
em ganzes Jahr auf der Insel zu und lebten alle Tage herrlich und
in Freuden. Endlich aber regte sich in uns allen wieder die Sehnsucht
nach dem lieben Vaterlande, und meine Gefährten drangen in mich,
ich solle Circe um unsere Entsendung bitten.
Ich offenbarte ihr unsere Wünsche und flehte sie um freundliche
Entlassung an. Sie antwortete mir gütig, sie wolle mich nicht auf¬
halten gegen meine Neigung, doch müsse ich zuvor erst einen Befehl
von ihr ausrichten, ehe ich den geraden Weg nach meinem Vaterlande
einschlagen könnte. Ich versprach alles und hörte mit Entsetzen fol¬
genden Auftrag: In das Reich der Unterwelt will ich dich senden,
den Geist des thebanischen Sehers Tiresias zu befragen, dem allein
unter allen Schalten Persephone, die Königin des Hades, das köstliche
Vorrecht verlieh mit wachen Sinnen wie ein Lebender auch dort noch
umherzuwandeln, indes die andern Seelen nur schwebende Schatten sind.
Ich rang die Hände und jammerte. Weinend saß ich neben der
Göttin und wünschte mir den Tod; das war ja die schwerste unter
allen Prüfungen, die ich zu bestehen hatte. Jedoch beruhigte sie mich.
Aber, rief ich, wer wird dahin den Weg mir weisen? Nimmermehr
stieg ja ein lebender Mensch zum Hades hinab, nimmermehr kehrte von
dort ein Lebender wieder zum Lichte. — Sorge nicht um dein Leben
noch um einen Führer, fuhr sie fort, sondern spanne ruhig die Segel
aus, setze dich mit deinen Gefährten ins Schiff und laß dich getrost
von dem Nordwinde treiben, der jetzt eben wehet. So wirst du in
fernem Westen an das Gestade des erdumfassenden Stromes Oceanus
kommen, und da wird sich dir bald die Kluft zeigen, die zur Unterwelt
hinabführt. Dort steig hinunter und nimm zum Opfer mit, was ich
dir sagen werde. Hast du nämlich das weite Thal erreicht, durch wel¬
ches die furchtbaren Flüsse Styx, Kocytus und Pyriphlegethon sich win¬
den, dann grab eine Grube in die Erde, eine Elle lang und breit, und
gieß hinein Milch, Honig, Wein und Wasser zum Opfer für die Toten.
Bestreue dies alles mit weißem Mehle, flehe auch die unterirdischen
Götter an und gelobe ihnen bei deiner Zurückkunft nach Jthaka ein
tadelloses Rind und dem Tiresias noch besonders einen stattlichen schwar¬
zen Widder. Dann nimm zwei Schafe, ein männliches und ein weib¬
liches, opfere sie, dein Gesicht nach dem Strome hinwendend, und laß
ihr Blut in die Grube fließen; die Leiber aber sollen die Gefährten
seitwärts abhäuten und verbrennen. Dann werden scharenweise aus der
Ferne die Schatten der Toten nahen, begierig von dem Blute zu trin¬
ken; du aber wehre es ihnen mit gezücktem Schwerte, daß keiner trinke,
bevor du den greisen Tiresias gesprochen hast. Bald wird auch dieser
kommen und die Schicksale deiner Heimfahrt dir verkünden.
Nach diesen Gesprächen stand ich traurig aus, warf Gewand und
Mantel über, und auch Circe hüllte sich in das glänzende, silberweiße
Kleid, band den schönen Gürtel um und befestigte den feinen Schleier
auf dem Haupte, um uns zu dem Schiffe zu begleiten. Wir wanderten
darauf mit schwerem Herzen nach dem Schiffe. Hier fanden wir schon