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Schrift nur den ersten Teil seines Planes ausgeführt; aber schon dieses
Bruchstück ist ein monumentales Werk und bildet den Ausgangspunkt der
Kunstkritik bis auf unsere Tage.
In seinen Hamburger Theaterkritiken wendet sich Lessing an die
gebildeten Stände und sucht an den Beispielen der einzelnen zur Auf¬
führung gelangenden Stücke die Gesetze der dramatischen Kunst klarzu¬
stellen. Mit schlagenden Gründen führt er, unter Berufung auf die Gesetze
der antiken Tragödie, den Nachweis, daß die französischen Dichter die
Poetik des Aristoteles durchaus mißverstanden und darum das Wesen der
Tragödie durchaus verkannt hatten; dem gleichen Irrtum waren jedoch
auch die deutschen Dichter aus der Gottschedschen Schule verfallen. Am
schärfsten treffen die Waffen seiner Kritik Voltaire; ihm stellte er Shake¬
speare gegenüber, den Meister und das Muster dramatischer Dichtung von
gleicher Größe, wie die großen Tragiker des griechischen Altertums. Diese
einzelnen Besprechungen vereinigte Lessing später unter dem Titel „Ham¬
burgische Dramaturgie". Sie ist dem „Laokoon" ebenbürtig und
bildet die zweite Stütze unserer heutigen Kunstwissenschaft.
Leider war diese Schrift auch der einzige bleibende Erfolg des Ham¬
burger Unternehmens; nachdem das Nationaltheater kaum ein Jahr be¬
standen hatte, mußte es geschlossen werden, und Lessing fühlte sich berech¬
tigt, am Schlüsse seiner Dramaturgie dem Publikum die bittersten Vorwürfe
zu machen, weil hauptsächlich dessen Lauheit den Mißerfolg verschuldet hatte.
Nun stand Lessing wiederum vor einer dunkelen Zukunft; die aber¬
malige unerwartete Enttäuschung erfüllte ihn mit Bitterkeit. Er wollte
dem Geräusche der Welt entfliehen; darum kam ihm das Angebot des
Herzogs von Braunschweig, der ihm die Stelle eines Bibliothekars in
Wolfenbüttel mit dem Titel eines Hofrats antrug (1769), recht wie
gerufen; in den öden Räumen des Wolfenbütteler Schlosses konnte er sich
vergraben. Nachdem er seine Angelegenheiten in Hamburg geordnet hatte,
bezog er die letzte Station seines Lebensweges.
Aber seine Beziehungen zu Hamburg wurden durch seinen Weggang
nicht gelöst. Er hatte dort in freundschaftlichem Verkehr mit dem Professor
der Mathematik Reimarus gestanden. Dieser Gelehrte war 1768 gestorben;
in seinem Nachlasse fanden sich Aufzeichnungen über wissenschaftliche,
namentlich theologische Fragen, deren Beantwortung von der herrschenden
lutherischen Kirchenlehre stark abwich. Von Elise Reimarus, der Tochter
des Verstorbenen, erhielt Lessing die Erlaubnis, das Heft mitnehmen zu
dürfen; ohne den Verfasser zu nennen, veröffentlichte er einzelne Abschnitte
unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten, aus den Schätzen der
herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel" und fügte ausdrücklich hinzu, daß
die geäußerten Ansichten nicht die seinigen wären. Dennoch wurde er wegen
dieser Veröffentlichung von dem Hamburger Hauptpastor Göze, einem
gelehrten Manne aber theologischen Eiferer, auf das heftigste angegriffen.