Full text: Von den Uranfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Abteilung 1, [Schülerband])

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Wahnsinniger, wie die Indianer sagen, oder wie andere sagen, 
ein seines Verstandes nicht Mächtiger, dem niemand viel zutraut. 
Im Buch Hiob war Elihu so voll von Weisheit, daß ihm der 
Bauch bersten wollte; er wartete aber doch, bis die Alten ausge¬ 
redet hatten, ans Ende. 2. Man hüte sich vor gewohnten 
Eigenheiten und Lieblingsausdrücken, dadurch man entweder 
lächerlich oder eintönig wird, weil man sie gemeiniglich zur Unzeit 
wiederholt. Fast niemand kann ihnen ganz entgehen; insonderheit 
haben sie Leute, die viel reden müssen und ohne Vorbereitung reden; 
doch aber hüte man sich vor ihnen und schränke sie so viel als 
möglich ein. Man bestelle uns Wächter, die uns solche sagen müssen, 
oder sei sich selbst Wächter. Jedem von uns ist bekannt, an welche 
Albernheit man sich gewöhnen kann, wenn man nicht auf sich merkt. 
3. Man hüte sich vor allem Despotismus im Umgang und 
in seinen Gesprächen. Despoten im Umgang sind die uner¬ 
träglichsten Geschöpfe; sie brechen die muntere liebliche Unterrich¬ 
tung ab, halten sie aus, lenken sie seitwärts und prägen ihre Meinung 
mit Stolz als Siegel der Wahrheit auf. Sie kommen nicht zur 
Wahrheit und wollen andere nicht dazu lassen. Jeder junge Mensch 
prüfe sich des Abends, ob er heute eine Ungezogenheit begangen, 
eine ungebührliche Rede geäußert, einen Diskurs verderbt, eine Ant¬ 
wort gegeben oder sonst ein Betragen gezeigt hat, mit dem andere, 
mit dem er nicht zufrieden sein könnte. Zur Unfreundlichkeit ist 
uns die Rede nicht gegeben. Bei allem kommt es vorzüglich darauf 
an, daß unsere Rede ganz sei und was Ganzes bestimmt 
sage. Der Deutsche halbiert außerordentlich gern und hält sich 
niederträchtigerweise an die Halbwahrheit. Entweder antworten wir 
wie der Unteroffizier mit dem Knüttel: „Hum! Ham!" ohne 
zu fragen, ob der andere daraus klug werde; oder wir sprechen 
wie Dienstboten, Lakaien — komplimentvoll, herumgehend um 
die Wahrheit. Dafür halten uns dann auch die fremden Nationen. 
Sie sagen, man kenne einen Deutschen an seinen Komplimenten, 
an seiner Anrede oder Antwort, am Ton seiner Unterredung; ent¬ 
weder sei er ein Grobian oder ein schleichender Hofierer, oft beides 
zugleich. Das, was man sagen will, rein, ganz, bestimmt 
und doch artig, höflich zu sagen und ein Ende in seiner 
Rede finden zu können: das ist der schöne Ausdruck der Ge¬ 
sellschaft und des Umganges. Er ist wie ein schöner Edelstein ein 
Kind der Natur, aber durch Kunst gefaßt, voll Sinnes, voll Anmut, 
voll inneren Wertes, klein und kostbar. 
vierundzwanzigstes Uapitel. 
Johann wolfgang von Goethe. 
Brausend und gärend war die Zeit, die mit dem letzten Drittel des 
vorigen Jahrhunderts anhob; große Dinge bereiteten sich vor; der An- 
PaldamuS-Rehorn, Lesebuch, Teil VI. 16
	        
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