Dritte Periode.
107
rich dem Glichesäre, einem elsässischen Dichter, nach einem französischen
Vorbilde bearbeitet worden war, erfuhr mehrfache glückliche Überarbeitungen
und Erweiterungen und macht in Bezug auf poetischen Wert eine Aus¬
nahme. Die berühmteste Bearbeitung ist die in niederdeutscher Sprache,
welche unter dem Titel „Reineke deVos" im Jahre 1498 in Lübeck erschien.
Aus dieser Arbeit, welche eine rasche Verbreitung fand, gingen nach
und nach 'zahlreiche andere in verschiedenen Sprachen hervor, nach ihr
dichtete auch Goethe seinen Reineke Fuchs in Hexametern und ebenso
Wilhelm Soltau (ch 1823) den seinigen in kurzen Reimpaaren.
b) Lyrik. Diese verschwand von den Höfen und Burgen und sank
von ihrer früheren hohen Ausbildung (Minnesang) zur vollsten Bedeu¬
tungslosigkeit (Meistersang) herab, indem sie ans den Händen der Ritter
und Herren in die der Bürger und Meister geriet. In den Städten
des südlichen und mittleren Deutschlands, besonders in Mainz, Augs¬
burg, Nürnberg und Ulm verbanden nämlich die Handwerksmeister mit
ihren religiösen Bruderschaften Singschulen, in welchen sie abends die
edle Sangeskunst pflegten, um dann die eingeübten Lieder Sonntags auf
dem Rathause oder in der Kirche vorzutragen.
Die Mitglieder einer solchen Singschule teilten sich je nach dem
Grade ihrer Kunstfertigkeit in Schüler, Schulfreunde, Singer,
Dichter und Meister. Zum Meister wurde nur derjenige erhoben,
welcher einen neuen Ton, d. h. einen Gesang mit neuer Strophen¬
form und eigener Melodie erfand. Aus den Meistern wurden die Merker-
gewählt, welche darauf zu achten hatten, daß nicht gegen die „Tabu¬
latur" (vorgeschriebene Gesangsregeln) gefehlt wurde. Verletzungen der¬
selben wurden bestraft, ausgezeichnete Leistungen dagegen belohnt. Die
Dichter hießen im Gegensatz zu den Minnesängern der vorigen Periode
Meistersänger und ihre Lieder Meistergesänge. Seine Blüte erreicht
der Meistersang, welcher sich meist auf religiösem Gebiete bewegt, nicht
sowohl in diesem Zeitraume, als vielmehr in dem folgenden durch Hans
Sachs, geht dann allmählich nieder, bis er zuerst in Mainz, wo die
erste Meistersängerschule gegründet worden war, erlischt. In Nürnberg
dauerte er fort bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts und in Ulm
sogar bis zum Jahre 1839.
c) Didaktik. An Lehrgedichten ist diese Periode sehr reich, und
wenn dieselben auch in poetischer Hinsicht verloren, so gewannen sie an
„praktischer Bedeutung und unmittelbarer Wirksamkeit". Das bedeutendste
Werk dieser Art ist „das Narrenschiff" von Sebastian Brant. Es
ist ein aus 113 kleineren Spruchgedichten bestehendes satirisches Lehr¬
gedicht, in welchem der Dichter die Thorheiten und Laster, besonders
die Genußsucht und Kleiderpracht seiner Zeit geißelt. Dieses Buch,
welches 1494 zu Basel erschien, erfreute sich bald einer außerordentlichen
Beliebtheit.