21 a. Der Zusammenbruch des Römerreichs und der alten Kultur. 69
und doch so unendlich schwer ist. Seine ganze Natur ist durchsichtige
Klarheit und die Überlieferung bewahrt über ihn ausgiebigere und
lebendigere Kunde als über irgend einen seiner Pairs in der antiken
Welt. Eine solche Persönlichkeit konnte wohl flacher oder tiefer, aber
nicht eigentlich verschieden aufgefaßt werden; jedem nicht ganz ver- m
kehrten Forscher ist das hohe Bild mit denselben wesentlichen Zügen
erschienen. Und doch ist dasselbe anschaulich wiederzugeben noch keinem
gelungen. Das Geheimnis liegt in dessen Vollendung. Von gewal¬
tigster Schöpferkraft und doch zugleich von durchdringendstem Ver¬
stände, nicht mehr Jüngling und noch nicht Greis, vom höchsten Wollen iss
und vom höchsten Vollbringen, erfüllt von republikanischen Idealen
und zugleich geboren zum König, ein Römer im tiefsten Kern seines
Wesens und wieder berufen, die römische und die hellenische Entwick¬
lung in sich wie nach außen hin zu versöhnen und zu vermählen, ist
Cäsar der ganze und vollständige Mann. 200
Es gehört mit zu Cäsars voller Menschlichkeit, daß er im höchsten
Grade durch Zeit und Ort bedingt ward; denn eine Menschlichkeit an
sich gibt es nicht, sondern der lebendige Mensch kann eben nicht anders
als in einer gegebenen Volkseigentümlichkeit und in einem bestimmten
Kulturzug stehen. Nur dadurch war Cäsar ein voller Mann, weil er 205
wie kein anderer mitten in die Strömungen seiner Zeit sich gestellt hatte
und weil er die kernige Eigentümlichkeit der r ö m i s ch e n Nation,
die reale bürgerliche Tüchtigkeit vollendet wie kein anderer in sich trug.
Der römische Mann stellte seinem jugendlichen griechischen Vor¬
gänger nicht bloß ebenbürtig, sondern überlegen sich an die Seite, aber 210
die Welt war inzwischen alt geworden und ihr jugendlicher Schimmer
verblaßt. Cäsars Tätigkeit ist nicht mehr wie die Alexanders ein freudiges
Vorwärtsstreben in die ungemessene Weite; er baute auf und aus Ruinen
und war zufrieden, in den einmal angewiesenen weiten, aber begrenzten
Räumen möglichst erträglich und möglichst sicher sich einzurichten. Mit 215
Recht hat denn auch der feine Dichtertakt der Völker um den unpoetischen
Römer sich nicht bekümmert und nur den Sohn des Philippos mit
allem Goldglanz der Poesie, mit allen Regenbogenfarben der Sage
bekleidet. Aber mit gleichem Recht hat das staatliche Leben der Na¬
tionen seit Jahrtausenden wieder und wieder auf die Linien zurück-220
gelenkt, die Cäsar gezogen hat, und die Völker, denen die Welt gehört,
nennen noch heute mit seinem Namen die höchsten ihrer Monarchen.
Theodor Mommsen.
2\a. Der Zusammenbruch des Römerreichs und der alten
Kultur.
I.
Das römische Kaiserreich ist ein gewaltiger Staat, der
alle Kulturvölker des Mittelmeers umschließt. Eine einheitliche, all-