B. Prosaische Darstellung
92. Heute.
Ich stehe an einem Bach und schaue in die Wellen, wie
sie zittern und wie sie rennen, schnell fort zu kommen, und ich
schaue mit den Gedanken noch weiter, als die Augen reichen, dem
Wasser nach.
Ivo gehst du hin, Wellelein, und wo kommst du her? Du
bist am Schwarzwald droben geronnen aus moosiger Guelle und
bist ungesehen wild abgestürzt vom Selsgestein; und wie in Schweiß
gekommen, schäumt und schnaust es noch eine Zeitlang im engen
Tal und fließt dann besänftigt Md süß durch schöne weite Ebenen.
Jetzt glänzt das Wasserslöckchen silberig im Sonnenschein, und
nachher versinkt es im Schatten von Weidengebüsch, und sechs
Stunden später leuchtet es wie ein mildes Slämmchen, rötlich und
goldig im Abendrot. Die Sonne sinkt, aber die Welle wellt fort
— bald stahlgrau und dunkel, bald weißblau im Mondschein —
oder geht unter in schwarzer Nacht.
So geht es mehrmal fort, und zuletzt stürzt das Schwarz¬
wälder waffertröpslein in einen Sluß oder Strom und wird
hinuntergeschwemmt ins Meer. Aber so groß und unergründlich
das Meer auch ist, die kleine Welt geht darin nicht verloren, und
es gibt ein Auge, das jeden Tropsen im Meer noch kennt, woraus
jene Welle zusammengesetzt war.
Man kann oft in den Büchern lesen, die Zeit sei wie ein
Sluß und die Ewigkeit wie ein unendliches Meer. Nun denn,
ein Tag im Menschenleben, ein „K>eute", ist gerade so wie eine
kleine Welle, die im Bache schwimmt und sich hebt und glänzt
und wieder versinkt.
Cs quillt der Tag hervor aus der Nacht und dem Schlaft
glitzert und zittert eine weile an der H>elle und sinkt wieder hinab
in die Nacht und den Schlaft So ein Tag ist eine Spanne Zeit,