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Naturgeschichtliches.
62. Ein Brief an den Frühling.
Lieber alter Freund!
Ich glaube wohl, daß ich dich so nennen darf, denn wir kennen
uns schon viele Jahre, und du darfst glauben, dabß meine Hinneigung
zu dir in dieser Zeit immer nur gewachsen ist. Ich mub es dir end-
lich einmal sagen, wie gern ich dich habe, und wie sehr ich deine
unvergleichliche Kunst verehre. Insonderheit im Winter, wenn die
Erde zu Stein, das Vasser zu Glas und der Regen zu weihem Pulver
gefroren ist, wenn Baume und Gesträuche mit traurigen Besen-
reisern dastehen und die vertrockneten Reste einst frischgrüner
Ranken trübselig im Vinde rascheln, da erfüllt mich zuweilen die
tiefste Verwunderung, wie du, Zauberer, es anfängst, dies alles so
köstlich zu verwandeln, den kalten, harten Stein des Bodens in einen
üppigen, durchblümten Teppich, die Besenreiser in schimmernde
Blũtenzweige und den erstarrten Spiegel des Teiches in weiche
fliebende Vellen, auf welchen leuchtende Wasserrosen sich wiegen.
WVir haben unter uns Menschen ja auch Zauberer, welche allerlei
können, zum Beispiel Eierkuchen in Zylinderhüten backen, ohne dabß
es diesen was schadet, und aus demselben Hute holen sie nachher
eine ganze Ausstattung für Zwillingskinder und so viele Bälle, dab
man eine ganze Schule, und so viele Becher, daß man eine Kom-
pagnie Soldaten damit versehen kann; allein das sind doch nur öde
und durchsichtige Gaukelkunststücke und nicht zu vergleichen mit
den deinigen, über welchen nun schon von Anbeginn viele Tausende
von gelehrten Häuptern gebrütet haben und ewig brüten werden,
ohne sie jemals zu ergründen.
Du schwingst deinen Zauberstab über die öde sibirische Steppe,
auf deren versteinerter Fläche bislang der eisige Winterwind ein-
herjagte, und siehe, binnen kurzem ist sie ein blühendes, farbiges
Meer von Tulpen und Iris, Tazetten und Hyazinthen; du steigst
lãachelnd die Berge hinauf und saumest die Ränder starrender
Gletscher mit Blüũten ohne Zahl; ja selbst in den Ländern der Mitter-
nachtsonne zauberst du eine wundervolle Blumenpracht auf die
erweichte Oberflãche des ewig gefrorenen Bodens, so daß deine
zarten Blüũtenkinder gar über dem Eise wohnen.
Du lieber Erũhling, ich glaube dir, daß du alle Jahre aus dem
warmen Süden wieder zu uns kommst, obwohl es dort, wie die
Leute sagen, so viel schõner sein soll als hier. Doch mub es wohl