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und Lasten und ohne jegliche Spur der alten Kraft. Der gewalt¬
same Sturz war eine gegebene Nothwendigkeit; nur über Zeit und Art
konnte der Kundige im Zweifel sein. „Es ist nicht schwer," sagt ein
neuer Geschichtsforscher, „ die Ursachen zu erkennen, aus denen in Frank¬
reich eine für das Jahrhundert so verhängnißvolle Wendung entsprungen
ist. Man hat den besondern Grund, nach welchem gerade bei diesem Volke
von allen Seiten her die Verbrechen und Jrrthümer sich häuften und die
Bewegung rettungslos dem Abgrunde zudrängte, nicht weit zu suchen; er
liegt mit grauenvoller Deutlichkeit in dem sittlichen Zustande Frankreichs
und zwar des alten feudalen Frankreichs zu Tage. Man kann sich nicht
wundern, daß der Freiheitssturm hier Alles in Trümmern warf, denn es
war Alles schon seit Menschenaltern in seinem sittlichen Kern angefault
und erkrankt. Es war ein Zustand, der sich ohne Uebertreibung mit jenem
des byzantinischen Kaiserreiches vergleichen läßt*)."
So war denn Ludwig XVI. sowohl durch seine Natur als durch
die Zeit, iu der er zur Regierung gelangte, bestimmt, das Opfer zu werden
für die Sünden von Jahrhunderten.
Als die französischen Regimenter aus Amerika zurückkehrten und das
neue Evangelium der Freiheit und Gleichheit verkündeten, wie seltsam unv
süß klang dies dem französischen Volke! Wie gut es dort der fleißige
Arbeiter habe, wie er nicht der Knecht des Adeligen sei; wie die Abgabe
der Grundbesitzer und der Reichen, wie die des Bürgers und Landmannes
im rechten Verhältniß stehe. Freiheit und Gleichheit! die Worte
tönten immer kräftiger und mächtiger, bis sie die Herrschaft der Willkür
und zuletzt auch sich selbst und alles Gesetz und alle Gerechtigkeit zu Grabe
geläutet hatten.
Als Ludwig XVI. und Maria Antoinette das Geräusch und
Gewoge im Schlosse hörten, und das Donnern vieler nahender Schritte,
welches ihnen die Verkündigung gab, der alte König sei nun todt, warfen
sie sich auf die Kniee und beteten laut: „Mein Gott, leite und behüte
uns! wir sind so jung zu herrschen!"
Wohl keinen Fürsten hat seine Krone je schwerer gedrückt, als den
guten, sanften, wohlmeinenden, aber schwachen und talentlosen Ludwig XVI.
(1774 —1792), Ludwig's XV. Enkel, welcher als Märtyrer des König¬
thums für das Unrecht fiel, welches seine Vorgänger in Glanz und Ueber-
muth begangen hatten. Seine Gemahlin, Maria Theresias Tochter,
Marie Antoinette war ganz geeignet, durch ihre Liebenswürdigkeit die
Herzen zu gewinnen; auch fehlte es ihr weder an Verstand noch an That-
kraft. Aber ihre Eitelkeit**) und Vergnügungssucht wurde in den Tagen
*) Sybel's Geschichte der Revolutionszeit.
**) Als einst Maria Theresia ein Portrait der Tochter erhielt, die sich in einer
von ihr selbst erfundenen modischen Tracht für ihre Mutter hatte malen lassen, schrieb
diese zurüä: „Ich habe das Bild der Königin von Frankreich erwartet und Du hast
mir eine Opernsängerin geschickt."