Central-Europa. Rhein. §. 55. 181
fließenden Brüder, und durch seine centrale Stellung in Mittel-Europa
mit der Hauptader recht in der Mitte des weitverzweigten Stromgebietes,
ist er nicht nur die große, fast stets schiffbare Handelsstraße zwischen Norden
und Süden (zwischen der Schweiz und Holland, zwischen Italien und Eng-
land) geworden, sondern auch der Ausg angspunkt^der Cultur für
das übrige Deutschland. Hier entstanden die ältesten Städte diesseits der
Alpen, ursprünglich als Standlager fremder Eroberer, die bald die Residenzen
römischer Kaiser, die ersten Metropolen der abendländischen Kirche, später die
Versammlungsorte für Reichstage, Kaiserwahlen, Concilien, die Stapelplätze
des Handels und die Sitze des Gewerbfleißes wurden. Das Rheinland ward
so die Wiege der deutscheu Neichsgeschichte und hat eine zweitausendjährige,
sowohl politische als cultnrgeschichtliche Entwicklung aufzuweisen. Vom Rheine
ans..drang deutsche Herrschaft und mit ihr deutsche Sitte gegeu Osten vor,
^^n»^/Sachsenland und bis zu den Slaven. Das Rheinland war die Heimat
von fünf der sechs großen deutschen Kaiserdynastien (zwei fränkischen, der
schwäbischen oder hohenstausen'schen, der luxemburgischen und Anfangs selbst
der Habsburgischen), wie der Sitz von vier Kurfürsten (also der Mehrzahl).
Und zu diesem Reize der Geschichte gesellt sich der nicht geringere eines aus-
nehmend reichen S a g e n s ch a tz e s, dessen sich die mittelalterliche Volksdichtung
bemächtigte und der auch im Rheinlande mit der höfischen Helden- uud Minne-
Dichtung wetteiferte. Im Stromgebiete des Rheines entstanden ferner die
herrlichsten Schöpfungen der christlichen Baukunst, fowohl der romanischen
(die Dome zu Speier, Mainz, Bamberg u. s. w.) als insbesondere der gothi-
schen (die Münster zu Freiburg und Straßburg, der Dom zu Köln u. s. w.).
Die ersten deutschen Dichter (Göthe, Schiller, Wieland, Uhland, Heine) und
Künstler (v. Cornelius, Beethoven u. s. w.) sind Söhne des Rheingebietes,
wie der Erfinder der Buchdruckerkunst. — Wenn aber der Rhein, inmitten
seiner lachenden Fluren, seiner rebenbekränzten Hügel, seiner sang- und sageu-
reichen Ritterburgen, seiner kunstreichen Dome und betriebsamen Städte, nicht
allein der Lieblingsstrom, sondern gewissermassen auch der heilige Strom der
Deutschen (in neuerer Zeit) geworden ist, fo verdankt er dies Letztere seiner
geographischen Lage an der Westgrenze des deutschen Landes uud den daraus
entstandenen dreihundertjährigen Kämpfen um den vollständigen Besitz beider
Ufer des Hauptstromes von Basel bis zur holländischen Grenze.
Ueb er ficht des Rheinlaufes.
Der Rhein entspringt an der Ostseite des St. Gotthard in drei
. Quellflüsfen, dem Vorder-, Mittel- und Hinterrhein, von denen
der mittlere bald mit dem Vorderrhein, letzterer bei Reichenau mit dem
Hinterrhein sich vereinigt. Der vereinigte Strom fließt nordwärts in
den Bodensee, nimmt bei dem Austritt aus diesem eine westliche Rich-
tnng bis Basel, wobei er den Jura durchbricht und auf der linken Seite
die durch Limmat und Renß verstärkten Gewässer der Aare empfängt,
ftie sich in den Seen am Nordfnße der Alpen geläutert haben, die
Limmat im Züricher, die Renß im Vierwaldstätter-, die Aare selbst im
Brienzer- und Thnner-See.
Bei Basel nimmt er wieder seine Hanptrichtung, die gegen Norden,
an und tritt in die (5—6 Meilen) breite oberrheinische Tiefebene, in
welcher die Gewässer des schwäbisch-fränkischen Hügellandes in zwei be-
deutenden Nebenflüssen, dem Neckar und dem Main, ihm zuströmen.
Unterhalb Bingen durchbricht er das niederrheinische Bergland in
einem engen Thale und nimmt die Gewässer dieses Berglandes von beiden