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Nun alles still — sie hat gewacht —
Doch hinterm Steine wirds belebt.
Und seine Büchse sachte, sacht
Der Rieder von der Schulter hebt,
Lehnt an die Klippe ihren Lauf,
Dann lockert er der Messer Klingen,
Hebt nun den Fuß — was hält ihn auf?
Ein Schrei scheint aus der Luft zu dringen.
Ha, das Signal! — er ballt die Faust —
Und wiederum des Geiers Pfiff
Ihm schrillend in die Ohren saust —
Noch zögert knirschend er am Riff —
Zum drittenmal — und sein Gewehr
Hat er gefaßt — hinan die Klippe!
Daß bröckelnd Kies und Sand umher
Nachkollern von dem Steingerippe.
Und auch das Mädchen fährt empor:
„Ei, ist so locker das Gestein?"
Und langsam, gähnend tritt hervor
Sie aus dem falschen Heil'genschrein,
Hebt ihrer Augen feuchtes Glühn,
Will nach dem Sonnenstände schauen,
Da sieht sie einen Geier ziehn
Mit einem Lamm in seinen Klauen.
Und schnell gefaßt, der Wildnis Kind,
Tritt sie entgegen seinem Flug:
Der kam daher, wo Menschen sind,
Das ist des Berges Maid genug.
Doch still! war das nicht Stimmenton
Und Räderknarren? still! sie lauscht —.
Und wirklich, durch die Nadeln schon
Die schwere Kutsche ächzt und rauscht.
„He, Mädchen!" ruft es aus dem Schlag,
Mit feinem Knicks tritt sie heran:
„Zeig uns zum Dorf die Wege nach,
Wir fuhren irre in dem Tann!" —
„Herr," spricht sie lachend, „nehmt mich auf,
Auch ich bin irr und führ euch doch." —
„Nun wohl, du schmuckes Kind, steig auf.
Nur frisch hinauf, du zögerst noch?" —
„Herr, was ich weiß, ist nur gering,
Doch führt es euch zu Menschen hin,
Und das ist schon ein köstlich Ding
Im Wald mit Räuberhorden drin:
Seht, einen Weih am Bergeskamm
Sah steigen ich aus jenen Gründen,
Der in den Fängen trug ein Lamm;
Dort muß sich eine Herde finden." —
Am Abend steht des Forstes Held
Und flucht die Steine warm und kalt;
Der Wechsler freut sich, daß sein Geld
Er klug gesteuert durch den Wald:
Und nur die gute, franke Maid
Nicht ahnet in der Träume Walten,
Daß über sie so gnädig heut
Der Himmel seinen Schirm gehalten.
5. Die Vergeltung.
I.
Der Kapitän steht an der Spiere,
Das Fernrohr in gebräunter Hand,
Dem schwarzgelockten Passagiere
Hat er den Rücken zugewandt.
Nach einem Wolkenstreif in Sinnen
Die beiden wie zwei Pfeile sehn.
Der Fremde spricht: „Was braut da drinnen ?"—
„Der Teufel," brummt der Kapitän.
Da hebt von morschen Balkens Trümmer
Ein Kranker seine feuchte Stirn,
Des Äthers Blau, der See Geflimmer,
Ach, alles quält sein fiebernd Hirn!
Er läßt die Blicke schwer und düster
Entlängs dem harten Pfühle gehn,
Die eingegrabnen Worte liest er:
„Batavia. Fünfhundertzehn."
Die Wolke steigt, zur Mittagsstunde
Das Schiff ächzt auf der Wellen Höhn,
Gezisch, Geheul aus wüstem Grunde,
Die Bohlen weichen mit Gestöhn.
„Jesus, Marie! wir sind verloren!"
Vom Mast geschleudert der Matros,
Ein dumpfer Krach in aller Ohren,
Und langsam löst der Bau sich los.
Noch liegt der Kranke am Verdecke,
Um seinen Balken festgeklemmt,
Da kömmt die Flut, und eine Strecke
Wird er ins wüste Meer geschwemmt.