B. Beschreibende und schildernde Darstellung.
131. Zur Winterzeit am Chiemsee.
Heinrich N o e.
Bayer. Seenbuch. Bd III. 8. 375.
Das Wasser des Chiemsees wallt unter dem Himmel, und die
wimmelnde Fläche zeigt das tiefe Blau, wie die sonnenliebenden Gen-
tianen, welche im Frühjahre die Rasen unseres Landes zieren. Er
seihst gleicht einem ungeheuren feuchten Kelche dieser Blüte, die
aus den aufgefangenen Lichtern sich blendenderen Lasur saugt als
die Höhe des Himmels und der Berge. So trug ich sein Bild in mir.
Als ich aber das letztemal durch die buschigen Hügel schritt,
welche Prien von dem moorigen Strande trennen, knarrte der Schnee
unter meinen Füssen. Die Eisdecke des Sees lag da. Das Auge
der Landschaft war tot, wie das eines Menschen, wenn die Linse
im Star milchweifs erstarrt. Bläuliche Fusstapfen zogen sich in
die Fläche' hinaus; die Herreninsel ragte dunkel aus den frostigen
Hüllen. Hie und da waren auf der dünn beschneiten Eisdecke
dunkle Flecken zu sehen. Dort stand Wasser, von Sonnenwärme
der vergangenen Tage erzeugt. Es konnte aber die eine oder andere
jener Stellen auch zu den durchgehenden Dehnungen gehören, welche
das Volk der Ufer ,. Dampf locker“ nennt.
So kommt es, dass es oft nicht geringe Gefahr bringt, durch
solche Wasser zu waten; denn wenn die mächtige Rinde des
Kerneises fehlt, dann senkt sich der Wanderer zu den vielerlei
Leichen und Knochen, die auf den Kieseln 500 Fuss unter der ge¬
brechlichen Decke liegen. Um sich und. uns davor zu bewahren,
nimmt der Führer, der voranschreitet, einen sehr langen Stock
mit, der am Ende mit einer scharfen eisernen Spitze versehen ist.
Biese Spitze hält er fünf bis sechs Fuss vor sich hin; er stöfst auf
1) ca. 145 Meter.