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39. Schon wollten sie zur Linde, die ob dem Bronnen ragt;
Doch Hagen sprach hinwieder: „Mir ist gar oft gesagt,
Kein Geschöpf vermöchte im Lauf Kriemhildens Mann,
wenn er eile, zu folgen. Jetzt käm' es auf ein Pröbchen an."
40. Da sprach der herre Liegfried, der Held aus Niederland:
„Das mögt ihr ja versuchen, wollt ihr zum Vronnenrand
In die wette mit mir laufen. Und ist das nun geschehn,
Soll jener Sieger heißen, den man zuerst am Ziel gesehn."
41. „So wollen wir's versuchen!" versetzte Hagen keck.
Da sprach der starke Siegfried: „So will ich aus dem Fleck
Mich Euch zu Füßen legen, nieder in das Gras."
Rls Günther dies vernommen, wie lieb im Herzen war ihm das!
42. Und weiter sprach der Kühne: „vernehmt der Kunde mehr:
Ich will am Leibe tragen alle meine wehr,
Den Wurfspieß samt dem Schilde, dazu mein Pirschgewand."
Den Köcher nebst dem Schwerte tat er um mit flinker Hand.
43. Doch Hagen zog und Günther vom Leib sich das Gewand,
Daß jeder in weißem Hemde vorm Jägervolke stand.
Sie liefen wie zwei Panther durchs Kleegrün wunderschnell,
Doch sah den flinken Siegfried man früher noch am kühlen Csuell.
44. Sein war in allen Dingen der preis vor jedermann.
Den Köcher legt' er nieder und löste das Schwert alsdann
Und lehnte den Ger, den starken, an einen Lindenast.
So stand am rauschenden Bronnen der hochgemute, stolze Gast.
45. Der Held war aller Tugend und aller Züchte voll;
Wohl legt' er den Schild zu Boden, wo frisch der Bronnen quoll,
Doch wie der Durst auch quälte, er trank doch nimmermehr,
Bevor der König käme. Das lange Säumen empfand er schwer.
46. Des Bronnens muntre Welle war lauter, kühl und gut.
Da streckte König Günther sich nieder zu der Flut;
Draus schöpft' er mit dem Munde des Wassers Labe nun.
Sie hofften, daß auch Siegfried nach ihm ein Gleiches werde tun.
47. Da entgalt er seiner Züchte. Den Bogen und das Schwert,
Das allzumal trug Hagen von dannen unverwehrt;
Dann sprang er jäh zurücke, wo er den Wurfspieß fand,
Und spähte nach dem Kreuze auf des Fürsten Pirschgewand.
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