Full text: [Abteilung 2 = Für die mittleren Klassen, [Schülerband]] (Abteilung 2 = Für die mittleren Klassen, [Schülerband])

L 
In einem kleinen Stübchen saß eine alte Frau und spann emsig 
Flachs. „Ei, du altes Mütterchen," sprach die Königstochter, „was 
machst du da?" „Ich spinne," sagte die Alte und nickte mit dem 
Kopfe. „Wie das Ding herumspringt!" sprach das Fräulein und 
nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie die 
Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie 
stach sich damit in den Finger. In demselben Augenblicke aber fiel 
sie auch in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, 
die eben zurückgekommen waren, fingen an mit dem ganzen Hofstaate 
einzuschlafen. Es schliefen die Pferde im Stalle ein, die Hunde im 
Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das 
Feuer, welches auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, 
und der Braten hörte aus zu brutzeln, und der Koch, der den Küchen¬ 
jungen, weil er etwas versehen hatte, bei den Haaren ziehen wollte, 
ließ ihn los und schlief; kurz alles, was lebeudigen Odem hatte, 
ward still und schlief. Um das Schloß aber begann eine Dornenhecke 
zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß 
so umzog, daß gar nichts mehr, selbst nicht die Fahne auf den Dächern, 
zu sehen war. Es ging aber die Sage in dem Lande von dem 
schönen, schlafenden Dornröschen (denn so wurde die Königstochter ge¬ 
nannt), also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch 
die Hecke in das Schloß dringen wollten. Doch war ihnen dies nicht 
möglich; denn die Dornen hielten sich gleichsam wie an Händen 
zusammen, und sie blieben daran hangen und starben jämmerlich. 
Nach langen, langen Jahren kam wieder ein Königssohn durch 
das Land. Diesem erzählte ein alter Mann von der Dornenhecke; 
es solle ein Schloß dahinter stehen, in welchem ein wunderschönes 
Fräulein, Dornröschen genannt, mit dem ganzen Hofstaate schlafe. 
Er erzählte auch, er habe von seinem Großvater gehört, daß viele 
Königssöhne gekommen wären, um durch die Dornenhecke zu dringen; 
sie seien aber darin hangen geblieben und eines traurigen Todes ge¬ 
storben. Da sprach der Jüngling: „Das soll mich nicht abschrecken; 
ich will hindurch und das schöne Dornröschen sehen." Der Alte 
mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht darauf. Nun waren 
aber gerade an dem Tage, wo der Königssohn kam, die hundert 
Jahre verflossen. Und als er-sich der Dornenhecke näherte, waren 
es lauter große, schöne Blumen. Sie thaten sich von selbst aus ein¬ 
ander, daß er unbeschädigt hindurchging; hinter ihm aber thaten sie 
I
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.