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zwar von den Flüssen geschmolzen, der Schnee auf den Feldern und
in den Straßen aufgetaut, auch hatten bereits die Schneeglöckchen und
der Krokus ihre Blüten entfaltet; aber auf den Höhen lag noch das
weiße Leichentuch unverändert ausgebreitet, als wären wir mitten im
Winter, und in den Öfen brannte das Feuer fast den ganzen Tag.
Waren die Winterkleider auch einmal fortgehängt, immer mußten sie
von neuem hervorgeholt werden, und behauptete auch am Tage der
Frühling siegreich sein gewonnenes Terrain, des Nachts war der
Schnee doch öfter wieder von den Höhen über die Fluren und in
die Straßen der Stadt eingedrungen. Endlich blieb er auch des
Nachts fort, und jetzt ist, soweit das Auge reicht, keine Spur vom
Winter mehr zu entdecken. Er hat schließlich den Rückzug angetreten
und wie früher seinen Sommersitz in den Hochgebirgen aufgeschlagen.
Dort thront er in uneinnehinbaren Eispalästen und Schneeburgen,
seinen Unmut von Zeit zu Zeit durch den Donner herabrollender
Lawinen kundgebend.
Durch Busch und Flur streifen nun Tag und Nacht linde Lüfte;
es regt sich in den Thälern und regt sich auf den Höhen. Überall
knospet's in den Zweigen und grünet es auf den Wiesen. Zwischen
den zarten Spitzen des Grases zeigt sich schon die blaue Blüte des
wohlriechenden Beilchens und die goldgelbe Krone des zarten Hahnen¬
fußes. In den Gärten erhebt die Kaiserkrone stolz ihr Haupt, und
die Tulpe prangt in den buntesten Farben. Bald werden die Kirsch¬
bäume die Fülle ihrer weißen Blüten entfalten und an den Zweigen
der Birnen- und Apfelbäume die Knospen in Rosenbouquets aufbrechen.
Es ist überall ein Weben und Schaffen, ein Keimen und Sprossen
wie am dritten Schöpfungstage.
Freundlich lächelnd blickt die Sonne vom klaren Himmel und
ruft aus den Stuben die Kinder ins Freie. Die Knaben spielen mit
Kreisel und Ball, die Mädchen führen Ringeltänze aus und flechten
die ersten Kränze. Auch die Erwachsenen verlassen die dumpfen Stuben
und gehen an die Arbeit in Feld und Garten. Der Landmann streut
in die sorgsam gezogenen Furchen den Samen, und der Gärtner legt
die Erbsen und Bohnen in die allnährende Erde. Aus den Ställen
treibt der Hirt die muntere Herde, und in frohen Sprüngen weidet
diese das frische Gras. Wie ans der Erde, so wird es auch hoch in
den Lüften lebendig. Schwalben durchziehen sie in schnellem Fluge,
und Lerchen erheben sich singend langsam bis zu den Wolken. Noch