Full text: [Abteilung 2 = Für die mittleren Klassen, [Schülerband]] (Abteilung 2 = Für die mittleren Klassen, [Schülerband])

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30. Der sterbende Schwan. 
(Johann Gottfried von Herder.) 
„Muß ich allein denn stumm und gesanglos sein?" sprach seufzend 
der stille Schwan zu sich und badete sich im Glanze der schönsten 
Abendröte; „beinahe ich allein im ganzen Reiche der gefiederten Scharen? 
Zwar der schnatternden Gans und der gluckenden Henne und dem 
krächzenden Pfau beneide ich ihre Stimme nicht; aber dir, o sanfte 
Philomele, beneide ich sie, wenn ich, wie festgehalten durch dieselbe, 
langsamer meine Wellen ziehe und mich im Abglanze des Himmels 
trunken verweile. — Wie wollte ich dich singen, goldene Abendsonne, 
dein schönes Licht und meine Seligkeit singen, mich in den Spiegel 
deines Rosenantlitzes niedertanchen und sterben!" — 
Still entzückt tauchte der Schwan nieder, und kaum hob er sich 
aus den Wellen wieder einpor, als eine leuchtende Gestalt, die am 
Ufer stand, ihn freudig zu sich lockte. Es war der Gott der Abend- 
und Morgensonne, der schöne Phöbus. „Keusches, liebliches Wesen," 
sprach er, „die Bitte ist dir gewährt, die du so oft in deiner ver¬ 
schwiegenen Brust nährtest; und sie konnte dir nicht eher gewährt 
werden." 
Kaum hatte er das Wort gesagt, so berührte er den Schwan mit 
feiner Leier und stimmte auf ihr den Ton der llnsterblichen an. 
Entzückend durchdrang der Ton den Vogel Apollos, und aufgelöst 
und ergossen, sang er in die Saiten des Gottes der Schönheit, dankbar 
froh besingend die schöne Sonne, den glänzenden See und sein unschul¬ 
diges, seliges Leben. Sanft wie feine Gestalt war das harmonische 
Lied; lange Wellen zog er daher in süßen entschlummernden Tönen, 
bis er sich - im Elysium wiederfand, am Fuße des Apollo in seiner- 
wahren, himmlischen Schönheit. Der Gesang, der ihm im Leben 
versagt war, war sein Schwanengesang geworden, der sanft seine 
Glieder auslösen mußte; denn er hatte den Ton der Unsterblichen 
gehört und das Antlitz eines Gottes gesehen. Dankbar schmiegte er 
sich an den Fuß Apolls und horchte seinen göttlichen Tönen, als eben 
auch sein treues Weib ankam, die sich in süßem Gesänge ihm nach 
zu Tode geklaget. Die Göttin der Unschuld nahm beide zu ihren 
Lieblingen an, das schöne Gespann ihres Muschelwagens, wenn sie im 
See der Jugend badet. Gedulde dich, stilles, hoffendes Herz! Was 
dir im Leben versagt ist, weil du es nicht ertragen könntest, giebt 
dir der Augenblick deines Todes.
	        
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