5. Entwicklungsgang der Kultur Europas.
21
üble Nachrede und Murren des Volks zieht sich einer seiner Nachfolger
zu, als er diese Zahl verdoppelt. Schon diese Ziffern beweisen, daß
es auf einer Überschätzung beruhte, wenn man die Wanderungen der E
Germanen im wesentlichen als Beutezüge abenteuerlustiger Gefolg¬
schaften, die Staatengründungen auf römischer Erde als Taten von
Gefolgsherren dachte, ja sogar den Ursprung mancher deutschen
Völkerschaften auf ein großes Dienstgefolge zurückführte.
Spielt also die Gefolgschaft in der germanischen Zeit auch nicht200
die Rolle, die man ihr früher zuzuweisen liebte, so hat sie sich doch
auch mit Nichten schon damals ausgelebt, sondern ist nach ihrer fried¬
lichen Seite hin als Wiege des germanischen Beamtentums, nach ihrer
kriegerischen Seite hin als einer der Keime des Lehenswesens von
maßgebendem Einfluß geworden auf die Fortbildung der deutschen «o5
Verfassungsverhältnisse. Heinrich Brunner.
5. Entwicklungsgang der Kultur Europas.
In dem Wechselverkehr des Nordens und Südens oder der Ger¬
manen und Noms besteht der Hauptinhalt der Geschichte des europäi¬
schen Mittelalters. Von Deutschland waren die Scharen ausgezogen,
die den stolzen militärisch-administrativen Bau des Imperatorenreiches
in Trümmer geschlagen hatten. Sie wirkten als Befreier, weil sie Einzel- s
leben an Stelle der wie mit ehernen Klammern festgefügten Einheit
gesetzt hatten. Umgekehrt hatte Deutschland schon vor der Völkerwan¬
derung sich der Verführungen südlicher Kultur nicht erwehren können
und erfuhr nun während des Mittelalters den unaufhaltsamen, allmäh¬
lich alle Adern durchdringenden Prozeß der Romanisierung an io
sich. Seine Wälder wurden ausgerodet, Ansiedelungen, bald auch
Städte gegründet und die Sitten, Regierungs- und Rechtsnormen, die
das Altertum erfunden hatte, auf den neuen Boden angewandt.
Ein wichtiger Mittelpunkt der hin- und hergehenden Kultur¬
bewegung war Belgien (und das südlich davon gelegene Gebiet), is
Zur Zeit Cäsars wohnten dort noch kriegerische, in derber Naturfrische
verbliebene Kelten, den Germanen ähnlich, von diesen bedrängt,
später mit ihnen sich mischend, den Germanen nachher ein Vorbild
weitergeschrittener Zivilisation, den alten Nömerlanden eine Quelle
der Jugend. Flandrische Kolonisten waren es, die in Deutschland 20
die höheren Formen des Ackerbaues lehrten; von Burgund ging die
Tuch- und Leinwandweberei aus; dort (im nordöstlichen Frankreich) .
ward die gotische Architektur erfunden und war eine dichte Saat
von Städten mit mächtigen Kathedralen ausgestreut; dort gingen
me Fabeln von Reineke Fuchs um und erwachte zuerst die phantastische 25
ööce der Kreuzzüge; dort hatte die modernste Kunst, die Musik, ihre
Geburtsstätte und wurde die Ölmalerei, wenn nicht erfunden, so doch
angewandt und vervollkommnet.