Full text: Deutsches Lesebuch für die siebente Klasse der bayerischen Gymnasien und verwandter Lehranstalten (Klasse 7, [Schülerband])

5. Entwicklungsgang der Kultur Europas. 
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üble Nachrede und Murren des Volks zieht sich einer seiner Nachfolger 
zu, als er diese Zahl verdoppelt. Schon diese Ziffern beweisen, daß 
es auf einer Überschätzung beruhte, wenn man die Wanderungen der E 
Germanen im wesentlichen als Beutezüge abenteuerlustiger Gefolg¬ 
schaften, die Staatengründungen auf römischer Erde als Taten von 
Gefolgsherren dachte, ja sogar den Ursprung mancher deutschen 
Völkerschaften auf ein großes Dienstgefolge zurückführte. 
Spielt also die Gefolgschaft in der germanischen Zeit auch nicht200 
die Rolle, die man ihr früher zuzuweisen liebte, so hat sie sich doch 
auch mit Nichten schon damals ausgelebt, sondern ist nach ihrer fried¬ 
lichen Seite hin als Wiege des germanischen Beamtentums, nach ihrer 
kriegerischen Seite hin als einer der Keime des Lehenswesens von 
maßgebendem Einfluß geworden auf die Fortbildung der deutschen «o5 
Verfassungsverhältnisse. Heinrich Brunner. 
5. Entwicklungsgang der Kultur Europas. 
In dem Wechselverkehr des Nordens und Südens oder der Ger¬ 
manen und Noms besteht der Hauptinhalt der Geschichte des europäi¬ 
schen Mittelalters. Von Deutschland waren die Scharen ausgezogen, 
die den stolzen militärisch-administrativen Bau des Imperatorenreiches 
in Trümmer geschlagen hatten. Sie wirkten als Befreier, weil sie Einzel- s 
leben an Stelle der wie mit ehernen Klammern festgefügten Einheit 
gesetzt hatten. Umgekehrt hatte Deutschland schon vor der Völkerwan¬ 
derung sich der Verführungen südlicher Kultur nicht erwehren können 
und erfuhr nun während des Mittelalters den unaufhaltsamen, allmäh¬ 
lich alle Adern durchdringenden Prozeß der Romanisierung an io 
sich. Seine Wälder wurden ausgerodet, Ansiedelungen, bald auch 
Städte gegründet und die Sitten, Regierungs- und Rechtsnormen, die 
das Altertum erfunden hatte, auf den neuen Boden angewandt. 
Ein wichtiger Mittelpunkt der hin- und hergehenden Kultur¬ 
bewegung war Belgien (und das südlich davon gelegene Gebiet), is 
Zur Zeit Cäsars wohnten dort noch kriegerische, in derber Naturfrische 
verbliebene Kelten, den Germanen ähnlich, von diesen bedrängt, 
später mit ihnen sich mischend, den Germanen nachher ein Vorbild 
weitergeschrittener Zivilisation, den alten Nömerlanden eine Quelle 
der Jugend. Flandrische Kolonisten waren es, die in Deutschland 20 
die höheren Formen des Ackerbaues lehrten; von Burgund ging die 
Tuch- und Leinwandweberei aus; dort (im nordöstlichen Frankreich) . 
ward die gotische Architektur erfunden und war eine dichte Saat 
von Städten mit mächtigen Kathedralen ausgestreut; dort gingen 
me Fabeln von Reineke Fuchs um und erwachte zuerst die phantastische 25 
ööce der Kreuzzüge; dort hatte die modernste Kunst, die Musik, ihre 
Geburtsstätte und wurde die Ölmalerei, wenn nicht erfunden, so doch 
angewandt und vervollkommnet.
	        
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