Full text: Für Klasse 2 (neuntes Schuljahr) und die Obertertia der Studienanstalten (Teil 8, [Schülerband])

558813 
Der Stadtpfeifer lief durch die stillen Straßen und wußte selbst 
nicht, zu welchem Ende. Es war gut, daß es bereits dunkel geworden; 
hätten ihn die Leute so laufen sehen, sie würden gesagt haben, Heinrich 
Kullmann sei übergeschnappt. 
Böse und gute Gedanken stritten sich in seiner Seele. „Warum 
habe ich ein Weib genommen, da ich keines ernähren kann? Ein so 
braves Weib und doch nicht recht für einen Musikanten! Sie faßt 
mich nicht. Sie fordert Brot, wenn ich nach dem Bogenstrich Tartinis 
ringe. Und doch hat sie recht — muß ich ihr nicht Brot schaffen? 
Aber auch ich habe recht, denn wenn ich nur einmal den Bogenstrich 
gefunden, den ich fühle, dann kann sie wieder ihren Sonntagskuchen 
backen so groß wie einen Mühlstein. Könnt' ich ihr nur erst Brot 
bringen!“ 
Er suchte nochmals in allen Taschen nach etwas verirrter Münze, 
allein es fand sich nichts. 
So lief der Stadtpfeifer bis über die Lahnbrücke. Jetzt war er 
im Freien vor der Stadt. Es war ganz dunkel geworden. Die Spuk— 
gestalten, womit der Volksglaube die Felsschluchten vor Weilburg be— 
völkert, tanzten vor den wirren Sinnen des Dahinstürmenden, und er 
stutzte plötzlich und hielt ein, mit Schauern des Spruches gedenkend, 
daß der Tag den Lebendigen gehöre, die Nacht aber den Toten. Er 
blicke gegen die Stadt zurück. Der Fluß brauste unheimlich in der 
schwarzen Tiefe; das alte Schloß lagerte sich über den breiten Fels— 
rücken langgestreckt wie eine riesige Sphinx, die Wache hält an den 
Türen der Talschlucht. Aber hoch über den verlassenen Bau, aus dessen 
Fenstern heute kein einziges Licht zum Wasser niederglänzte, ragte der 
Schloßturm, und nahe seiner Spitze leuchtete ein tröstlicher Schimmer; 
das war die Kammer, wo Christine saß und weinte. 
Der Stadtpfeifer blickte starr nach dem einzigen Licht in der Höhe, 
und es ward ihm in der Seele leid, daß er eben so unfreundlich seines 
Weibes gedacht. Und indem er so das einzige Licht in der ringsum 
endlos ausgebreiteten Finsternis anblickte, fiel ihm ein einfältiger Vers 
ein, den er manchmal von seiner Mutter hatte singen hören, der hieß: 
„Wem nie durch Liebe Leid geschicht, 
Dem ward auch Lieb' durch Liebe nicht; 
Leid kommt wohl ohne Lieb' allein; 
Lieb' kann nicht ohne Leiden sein.“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.