Full text: Prosalesebuch für Obertertia und Untersekunda der Vollanstalten oder Klasse II und I der Realschulen (Teil 5, [Schülerband])

16. Die Erhebung des deutschen Volkes gegen Frank¬ 
reich im Jahre 1876. 
Heinrich Sybel. Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wichelm I. 
Bd. VII. München und Leipzig 1894. 
An demselben 15. Juli, an welchem Frankreich aus Eifersucht auf 
Preußens Wachstum den Angriffskrieg beschloß, reiste König Wilhelm 
von Ems nach Berlin zurück, um, wenn es so geschähe, die Ver¬ 
teidigung zu sichern. Wenn früher einzelne Stimmen die Geduld 
getadelt hatten, mit der er die französischen Zumutungen anhörte, 
jetzt, nach seinem kräftigen Entschlüsse zu ihrer Abfertigung, war sein 
Volk ihm dankbar, daß er bis an die äußerste Grenze der Langmut 
gegangen war und damit die Friedensliebe und das gute Gewissen 
Deutschlands der Welt offenbar gemacht hatte. Wo der königliche 
Zug anhielt, waren die Bahnhöfe mit gedrängten Menschenmassen 
erfüllt, welche den greisen Herrscher mit unablässigen Jubelrufen be¬ 
grüßten. Da war kein Unterschied von alt und jung, von Stadt 
und Land, von altpreußischen und annektierten Provinzen: die Be¬ 
wegung war ebenso stark und einmütig in den hessischen und in den 
hannoverschen wie in den niedersächsischen und brandenburgischen 
Orten. Der Kronprinz, Bismarck, Roon und Moltke waren dem 
Könige bis Brandenburg entgegengefahren, um ohne Zeitverlust gleich 
die dringlichsten Vorkehrungen mit ihm zu besprechen. Noch wollte 
der König nicht an den Ausbruch des Krieges glauben; er dachte, 
daß jetzt die französische Aufregung sich beruhigen werde. Als aber 
der Zug in den ebenfalls von dichten Menschenmassen erfüllten und 
umlagerten Berliner Bahnhof eingelaufen war, überreichte auf dem 
Bahnsteig Herr von Thile dem Grafen Bismarck das eben aus Paris 
gekommene Telegramm mit der Erklärung der französischen Minister. 
Es wurde Sr. Majestät vorgelesen; der König sagte: „Das sieht 
ja sehr kriegerisch aus; da werden wir wohl drei Armeekorps so¬ 
gleich mobil machen müssen." Bismarck sagte: „Majestät, das wird 
nicht reichen; die Franzosen mobilisieren jetzt schon ihre ganze Armee." 
Der König befahl darauf Bismarck eine nochmalige Vorlesung der 
ganzen Depesche. „Aber das ist ja die Kriegserklärung," rief er jetzt 
m tiefer Bewegung, „also wirklich noch einmal ein solcher Krieg?" 
"Es ist wahr," sagte er darauf, „es ist der Krieg; nun denn, so sei 
es, in Gottes Namen." Der Kronprinz wandte sich zu den hinter 
ihm stehenden Offizieren mit dem Rufe: „Krieg, Mobil!" worauf 
ihn der König unter Tränen lebhaft umarmte. Die Kunde flog 
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