Full text: Prosalesebuch für Obertertia und Untersekunda der Vollanstalten oder Klasse II und I der Realschulen (Teil 5, [Schülerband])

Nichts steht ohne Bedeutung da. Bei all dieser Umständlichkeit fällt 
die biblische Erzählungsart doch nie ins Kleinliche. Nirgends ist eine 
weitläufige Schilderung vom Sonnenaufgang, von Landschaften usw., 
welche die Aufmerksamkeit vom Ganzen abzöge. Alle Umstände und 
5 Umständchen dienen bloß dazu, das Ganze lieblicher, anziehender und 
lebendiger zu machen. Überall ist die goldene Mittelstratze zwischen 
magerer Kürze und üppiger Verschwendung sorgfältig beobachtet. 
Dies alles ist aber noch nichts gegen die handelnden Personen. 
Da sind keine Schattengestalten, die nicht reden und deuten, sich 
10 weder regen noch bewegen. Sie sind Menschen, die reden und handeln 
wie wir. Man hört da den Geschichtschreiber nicht mehr; er ver¬ 
schwindet ganz, man hört und sieht nur sie. Alle Personen sind 
aus dem wirklichen Leben genommen, Ackerleute, Hirten, Fischer, Kauf¬ 
leute; da ein Hirtenknabe, der die Schafe hütet, dort ein Mädchen, 
i5 das Ähren liest. Und wo auch Könige auftreten, so sind sie keine 
Theaterkönige. Sie reden und gebärden sich so wie wir anderen 
Menschenkinder. Man fühlt es ihnen an, datz sie auch von unserem 
Fleisch und Blute sind. 
Die Menschen werden in ihren ländlichen und häuslichen Be- 
20 schäftigungen vorgestellt. Abraham spaltet Holz und sattelt seinen 
Esel, Jakob kocht. Rahel treibt die Schafe zur Tränke, David bringt 
seinen Brüdern Brot ins Lager. 
Die Personen werden immer redend eingeführt. Sie reden aber 
nicht die Büchersprache, die Sprache der Gelehrten und Ästhetiker, 
25 sondern die Sprache des Herzens und der Natur. „He! Brüder," 
ruft Jakob den Hirten am Brunnen zu, „wo seid ihr her? Kennt 
ihr auch den Laban?" „Den kennen wir gut." „Geht's ihm auch 
wohl?" „Es geht ihm wohl, und sieh nur, dort kommt seine Tochter 
mit den Schafen." Gerade so, wie wir unsere Landleute alle Tage 
so reden hören. 
Sie empfinden auch wie wir und drücken ihre Empfindungen 
in den wahrsten Tönen der Natur aus. Da sind keine langen Dekla¬ 
mationen. In zwei, drei Worte ist die ganze Empfindung wie in 
einen Brennpunkt gesammelt. Rüben ruft: „Der Knabe ist nicht 
35 mehr da, wo soll ich hin?" Jakob: „Mit Herzeleid werde ich zu 
meinem Sohne in die Grube fahren." Joseph: „Ich bin Joseph; 
lebt mein Vater noch?" 
Die Gebärden sind oft noch sprechender als die Worte. Hagar 
legt den Jsmael unter einen Baum und setzt sich einen Vogenschutz 
40 weit davon nieder, weil sie ihr Kind nicht kann verschmachten sehen.
	        
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