Full text: [Teil 2, Abteilung 1, [Band 1] = [Mittelstufe], [Schülerband]] (Teil 2, Abteilung 1, [Band 1] = [Mittelstufe], [Schülerband])

Chamisso: Abdallah. 
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15. Abdallah schaut's betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, 
Es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz. 
Sie schreiten zum Werke; der Derwisch hat klug sich Demanten erwählt, 
Abdallah wühlet im Golde, im Golde, das nur ihn beseelt. 
16. Doch bald begreift er den Irrtum und wechselt die Last und tauscht 
Für Edelgestein und Demanten das Gold, des Glanz ihn berauscht; 
Und was er fortzutragen die Kraft hat, minder ihn freut, 
Als, was er liegen muß lassen, ihn heimlich wurmt und reut. 
17. Beladen sind die Kamele schier über ihre Kraft, 
Abdallah sieht mit Staunen, was ferner der Derwisch schafft. 
Der geht den Gang zu Ende und öffnet eine Truh' 
Und nimmt daraus ein Büchschen und schlägt den Deckel zu. 
18. Es ist von schlichtem Holze, und was darin verwahrt, 
Gleich wertlos, scheint nur Salbe, womit man salbt den Bart; 
Er hat es prüfend betrachtet, das war das rechte Geschmeid', 
Er steckt es wohlgefällig in sein gefaltet Kleid. 
19. Drauf schreiten hinaus die beiden, und draußen auf dem Plan 
Vollbringt der Derwisch die Bräuche, wie er's beim Eintritt gethan; 
Der Schatz verschließt sich donnernd, ein jeder übernimmt 
Die Hälfte der Kamele, die ihm das Los bestimmt. 
20. Sie brechen auf und wallen zum Quell der Wüste vereint, 
Wo sich die Straßen trennen, die jeder zu nehmen meint; 
Dort scheiden sie und geben einander den Bruderkuß; 
Abdallah erzeigt sich erkenntlich mit tönender Worte Erguß. 
21. Doch wie er abwärts treibet, schwillt Neid in seiner Brust, 
Des andern vierzig Lasten, sie dünken ihn eigner Verlust: 
Ein Derwisch — solche Schätze — die eignen Kamele! — Das kränkt, 
Und was bedarf der Schätze, wer nur an Allah denkt? 
22. „Mein Bruder, hör', mein Bruder," so folgt er seiner Spur, 
„Nicht um den eignen Vorteil, ich denk' an deinen nur; 
Du weißt nicht, welche Sorgen, und weißt nicht, welche Last 
Du, Guter, an vierzig Kamelen dir aufgebürdet hast. 
23. Noch kennst du nicht die Tücke, die in den Tieren wohnt, 
O glaub' es mir: der Mühen von Jugend auf gewohnt, 
Versuch' ich's wohl mit achtzig; dir wird's mit vierzig zu schwer. 
Du führst vielleicht noch dreißig, doch vierzig nimmermehr." 
24. Daraus der Derwisch: „Ich glaube, daß recht du haben magst; 
Schon dacht' ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst. 
Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kamelen noch zehn! 
Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn." 
25. Abdallah dankt und scheidet und denkt in seiner Gier: 
Und wenn ich zwanzig begehrte, der Thor, er gäbe sie mir. 
Er kehrt zurück im Laufe, es muß versuchet sein: 
Er ruft; ihn hört der Derwisch und harret gelassen sein. 
26. „Mein Bruder, hör', mein Bruder, o traue meinem Wort! 
Du kommst, unkundig der Wartung, mit dreißig Kamelen nicht fort! 
Die widerspenstigen Tiere sind störriger, denn du denkst; 
Du machst es dir bequemer, wenn du mir zehen noch schenkst." 
27 • Darauf der Derwisch: „Ich glaube, daß recht du haben magst; 
Schon dacht' ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst.
	        
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