Zweite Abteilung.
Zur Veranschaulichung der Kultur und Geschichte
des klassischen Altertums.
41. Herakles am Scheidewege?
H. 333. Stall, Sagen des klassischen Altertums. Leipzig 1868. t 112.
Während Herakles auf dem Kithäron weilte, in einem Lebens¬
alter, wo der Knabe zum Jüngling wird und die ersten ernsten Blicke
in die Zukunft wirft, zog er sich eines Tages von Hirten und Herden
weg in die Einsamkeit und überlegte still dasitzend, in ernste Gedanken
versunken, welchen Lebenspfad er in Zukunft wandeln solle. Da sah
er zwei stattliche Frauen auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem
Aussehen Anstand und hohen Adel; ihren Leib schmückte Reinlichkeit,
Bescheidenheit ihr Auge; ihre Haltung war sittsam, fleckenlos rein ihr
Gewand. Die andre hatte einen wohlgenährten, weichlichen Körper;
das Weiß und Rot ihrer Haut war unnatürlich durch Schminke ge¬
hoben; ihre Gestalt war über die gewöhnliche Grenze aufgerichtet,
das Auge weit geöffnet. Sie betrachtete sich häufig mit Selbstgefallen
und blickte hierhin und dahin, ob auch andre sie sähen; oft schaute
sie nach ihrem eigenen Schatten. Als sie näher an Herakles herankamen,
ging die erstere ruhig ihren Gang fort, während die andre sich vor¬
drängend zu dem Jünglinge hineilte und sprach: „Ich sehe, Herakles,
daß du unschlüssig bist, welchen Weg des Lebens du einschlagen sollst.
Wenn du mich zur Freundin erwählst, so werde ich dich den ange¬
nehmsten und gemächlichsten Weg führen: du wirst keine Lust unge-
kostet lassen und dein Leben ohne alle Beschwerden durchleben. Um
Kriege und Geschäfte wirst du dich wenig kümmern; deine einzige
Sorge durch das ganze Leben wird sein, wie du an köstlichen Speisen
und Getränken dich ergötzest, wie du dein Auge, dein Ohr und die
1 Keine Sage, sondern eine zur Zeit des Sokrates ersonnene Allegorie eines
Philosophen.
Sinnig. Lesebnch II. 12. 3lufl.
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