Zweite Abteilung.
A. Erster Abschnitt.
J. Kleine Beschreibungen, Schilderungen, Scenen
und vilder.
106. Strom und Bach.
(J. Christ. August Heyse.)
Eine Mutter ging mit ihrer Tochter über eine Wiese, welche die
krystallhellen Fluten eines kleinen Baches durchrieselten. In einiger Ent—
fernung vor ihnen rollte ein majestätischer Strom laut und geräuschvoll
seine leuchtenden Wellen durch die Ebene. „Siehe, Mutter, welch ein Unter—
schied!“ hob die Tochter an. „Wie stolz und prächtig rauscht jener Strom
dort hinab, wie gering und unscheinbar fließt dagegen dieser uͤnbedeutende
Bach dahin!“ — „Meine Tochter,“ antwortete die Mutter, „dies möge
dir ein Bild von dem Leben vieler Menschen sein! Mancher Leben ist jenem
Strome gleich; ihre Tage gleichen seinen Wellen, die unstät mit solchem
Tosen zu ihrem Ziele hinabrauschen. Aber der Strom braust auch oft
verheerend durch die Gegend, welche er durchflutet, und wird der Schrecken
und das Verderben derer, die seinen Nutzen preisen. — So oft auch jene,
deren Thaten weit umher genannt werden, während andere, dem stillen
Bache ähnlich, in geräuschlosem Wirken durch das Leben gehen, wie diese
stillen Fluten nur segensreich den kleinen grünen Raum befeuchten, den sie
durchfließen. Dennoch entquillt Bach wie Strom den Tiefen der Erde,
und einer wie der andere verliert sich in dem weiten Ocean, wo ihre Spur
nicht mehr zu finden ist.“ — So haben die Menschen auch einen Ursprung
und ein Ziel, so verschieden auch ihr Beruf auf Erden ist.
107. Das Bächlein.
(Friedrich Adolf Krummacher.)
Ein edler Vater stand mit seinem Sohne am Rande eines eilenden
Bächleins, welches unter dem Schatten vieler Zweige und dichten Laubwerks
einen silbernen Glanz zeigte. Der Vater sprach: „Das Bächlein sendet
schon viele Jahrhunderte hindurch seine reinen Wellen in das Thal und
bewässert die Wiesen. In jedem Augenblicke sehen wir anderes Wasser an
uns vorübereilen, und doch wird die Fülle und Klarheit desselben nicht
vermindert. Dies kommt daher, weil das Wasser aus einer lebendigen und