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141. Der Raub der Persephone.
(ach Witt.)
Die Göttin Demeter hatte eine Tochter, welche Persephone (Pro—
serpina) hieß und auf der Insel Sizilien lebte. Die Mutter hatte ihr
viele Gespielen gegeben, die immer bei ihr waren, und kam auch selbst
oft vom Olymp herab, um nach ihr zu sehen und sich ihrer zu freuen.
Die Jungfrauen stellten mit einander Reigentänze an, suchten von Berg
und Thal die schönsten Blumen und trieben allerlei fröhliche Dinge. Einst
hatten sie sich im Thale zerstreut und pflückten bunte Blumen. Persephone
war ganz allein. Da öffnete sich auf einmal neben ihr die Erde; es kam
ein Wagen herauf, mit kohlschwarzen, wilden Pferden bespannt, und auf
demselben stand ein Mann, bleich von Antlitz, mit langem, schwarzem Barte,
um das Haar einen goldenen Reif. Er umfaßte die schöne Persephone,
zog sie zu sich auf den Wagen und peitschte die Pferde an, die mit ihnen
davonliefen gleich dem Winde. Bald waren sie wieder unter die Erde
gegangen, und es war nichts mehr zu hören und zu sehen. Die Gespielen
hatten zwar das Schreien ihrer Herrin gehört, nichts jedoch von dem
ganzen Vorfalle bemerkt, und daher wußten sie auch nicht, wohin Persephone
gekommen war.
Als Demeter erfuhr, daß ihre Tochter geraubt wäre, war ihr Schmerz
groß; sie zündete eine Fackel an und durchsuchte die ganze Erde. Aber
obwohl sie in die Höhlen und Klüfte leuchtete, die höchsten Berge bestieg
und Götter und Menschen befragte, nirgends fand sie eine Spur. Der
schwarze Mann nämlich, welcher ihre Tochter geraubt hatte, war Pluton,
der Beherrscher der Unterwelt. Dieser hatte, weil es in der Unterwelt so
traurig aussah, daß er keine Gemahlin erlangen konnte, von Zeus die
Erlaubnis erhalten, die schöne Persephone zu entführen. Demeter hatte
davon keine Ahnung. Als sie ihr Suchen ein ganzes Jahr hindurch fort—
gesetzt hatte und immer trauriger geworden war, da hatte der Sonnengott
Helios Mitleid mit ihr. Er sah alles, was auf Erden geschah, hatte
auch gesehen, wie Pluton die Persephone raubte, und sagte der Demeter,
daß ihre Tochter mit Wissen und Willen der Götter in der Unterwelt sei.
Demeter grollte auf den Zeus und die andern Götter, weil sie ihr ein so
großes Leid bereitet hatten, und wollte nicht mehr mit ihnen im Olymp
wohnen, sondern wählte ihren Wohnsitz auf der Erde unter den Menschen.
Die Götter aber ehrten die Demeter und hatten sie lieb; darum war es
ihnen leid, daß sie grollte und sich nicht mehr bei ihnen zeigte. Nach
einiger Zeit berief deshalb Zeus alle Götter zu einer Versammlung, damit
sie zwischen Demeter und Pluton, die auch zu erscheinen aufgeforderi waren,
entscheiden und richten sollten. Das Urteil derselben lautete dahin, daß
Persephone, wenn sie in der Unterwelt noch nicht gegessen hätte, zu ihrer
Mutter zurückkehren sollte. Nun war Persephone in der Unterwelt immer
traurig gewesen und hatte nicht gegessen und getrunken. Aber einmal, als
sie den Fluß entlang ging, der in der Unterwelt ist, kam sie zu einem
Granatenbaume, der mit schönen, roten Äpfeln geschmückt war. Da brach
sie einen Apfel ab und aß ihn. Dies meldete Pluton im Göttergerichte
und wollte der Demeter keinen Teil lassen an ihrer Tochter. Aber die