— 128—
rauschenden Regen und das jammervolle Geschrei der Menschen. Als diese
aber alle ertränkt waren, hörte der Regen auf, und das Wasser fing an
sich zu verlaufen. Bald stieß auch der Kasten auf festen Grund. Deukalion
machte in denselben eine Offnung und sah nun wieder Sonnenschein. Aber
nur die Gipfel der Berge ragten erst aus dem Wasser gleich Inseln hervor.
Der Berg, auf dem der Kasten gelandet war, hieß Parnassos und war
den Göttern lieb. — Einst hatte Zeus prüfen wollen, welches die Mitte
der Erde wäre, und deshalb von den entgegengesetzten Enden der Welt zu
gleicher Zeit zwei Tauben abgesandt mit dem Auftrage, immer in gerader
Richtung fortzufliegen. Beide waren auf dem Parnaß zusammengekommen,
der somit den Mittelpunkt der Erde bildete. —
Als das Wasser verlaufen war, so daß sich Land und Meer wieder
von einander absonderten, sproßten das Gras und die Blumen und die
Bäume wie im Frühlinge. Und Zeus schickte den Götterboten Hermes, um
den beiden Geretteten mitzuteilen, daß er ihnen eine Bitte gewähren wolle.
Da baten sie, daß wieder Menschen die Erde beleben und bewohnen möchten,
und Hermes sagte, sie sollten in das Thal hinabsteigen und Steine hinter
sich werfen. Es lagen daselbst aber sehr viele Steine, welche sie aufhoben
und nach dem Geheiße über die Schulter warfen. Und sieh, es entstanden
so viele Menschen, als Steine dort gewesen waren, und zwar aus den von
Deukalion geworfenen Steinen Männer und aus denen der Pyrrha Frauen.
Deukalion unterwies sie in allerlei Künsten und war ihr König. Als aber
einige Zeit verflossen war, wohnten wieder allerorten Menschen, und es war
bald nichts von der großen Flut zu erkennen.
143. Tantalus.
(Gustav Schwab.)
Tantalus, ein Sohn des Zeus, herrschte zu Sipylus in Phrygien
und war außerordentlich reich und berühmt. Wenn je die olympischen
Götter einen sterblichen Mann geehrt haben, so war es dieser. Seiner
hohen Abstammung wegen wurde er ihrer vertrauten Freundschaft gewürdigt
und durfte sogar an der Tafel des Zeus speisen und alles mit anhören,
was die Unsterblichen unter sich besprachen. Aber sein eitler Menschengeist
vermochte das überirdische Glück nicht zu ertragen, und er fing an, mannigfäch
gegen die Götter zu freveln. Er verriet den Sterblichen die Geheimnisse
der Götter, entwandte von ihrer Tafel Nektar und Ambrosia und verteilte
den Raub unter seine irdischen Genossen, verbarg den köstlichen goldenen
Hund, den ein anderer aus dem Tempel des Zeus zu Kreta gestohlen hatte,
und als dieser ihn zurückforderte, leugnete er mit einem Eide ab, ihn
erhalten zu haben. Endlich lud er im Übermute die Götter zu Gaste, und
um ihre Allwissenheit auf die Probe zu stellen, ließ er ihnen seinen eigenen
Sohn Pelops schlachten und zurichten. Nur Ceres verzehrte von dem
gräßlichen Gerichte ein Schulterblatt, die übrigen Götter aber merkten den
Greuel, warfen die zerstückelten Glieder des Knaben in einen Kessel, und
die Parze Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anstatt der
verzehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne eingesetzt.