Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Teil 1, [Schülerband])

501 
Gestattet mir, den Schuß zu proben! 
Ihr sollt den bessern Schützen loben.“ 
Es winkt der Herr, die Bahn wird leer. 75 
Rings steht das Volk, ein brausend Meer; 
Durch alle schwirrt ein leiser Ton, 
Mitleid bei Fraun, bei Männern Hohn, 
Und nur dem Förster bange pochte 
Das Herz, wie er's auch hehlen mochte. 80 
Der fremde Jüngling neigt sich hold, 
Daß ihm der Locken sonnig Gold 
Als Schleier vor den Augen weht;: 
Dann steht er aufrecht, fest und stät, 
Wirft Haupt und Haar sich in's Genick 85 
Und mißt die Bahn mit freiem Blick. 
Die Armbrust faßt er nun mit Kraft; 
Es war von Ebenholz ihr Schaft, 
Der Bügel, blau von Stahl und blank, 
Wie eine Glocke hell erklang. 90 
Mit Sorgfalt prüft der Schütz die Sehne, 
Ob sie sich leicht und fügsam dehne; 
Selbst hat er sie in Winterstunden 
Aus wilden Marders Darm gewunden. 
Inmitten, wo die Sehne faßt 95 
Des Bolzes tödlich schwere Last, 
Da schürzt, daß nicht im Schuß sie 
springe, 
Zum Knoten er die Doppelschlinge. 
Und als die Spannung wohl vollbracht, 
Die Sehne schnellt er nun mit Macht; 100 
Laut wie der Harfe höchste Saite 
Erklang der schneid'ge Ton ins Weite. 
Nun aus dem Köcher nimmt er Bolze, 
Geschnitzt aus festem Eichenholze; 
Er wählt den glättesten, der scharf 105 
Gekantet blanke Lichter warf. 
Er setzt den Bogen vor die Brust, 
Er spannt ihn leicht mit stolzer Lust, 
Und staunend sahn die Schützen an 
Den starken Arm bei zartem Mann. [I110 
Wild blitzt sein Aug', aufs Ziel gewandt, 
Als wollt' er's sengen mit dem Brand; 
Doch bändigt er des Herzens Wellen, 
Die hoch in Siegeshoffnung schwellen; 
Er kühlt sich den entflammten Sinn, 115 
Klar, fest und stille schaut er hin. 
Er drückt, der Bügel mächtig klingt, 
Lant schwirrend sich die Sehne schwingt, 
Es saust der Bolz. Er hat getroffen! 
Da stand mit weiter Spalte offen 120 
Des Försters Bolz, ihn schnitt ins Mark 
Des Jünglings Schuß, gerecht und stark. 
Der Herold tritt zum Scheibenhaus, 
Er zieht die Bolze beid' heraus 
Und legt sie in des Grafen Hand, 125 
Der staunend ob dem Wunder stand. 
Des Försters Bolz war ganz zerschmettert, 
Gleich einer Rose aufgeblättert; 
Es saß darin der zweite Bolz, 
Fest eingekeilt ins harte Holz, 130 
Und war hinfort kein Zweifel dran, 
Wer hier den Meisterschuß gethan. 
442. Die deutsche Kaiserwahl. 
CLudwig Uhland. — Aus dem Drama: Ernst, 
Herzog von Schwaben.) 
Der fromme Kaiser Heinrich war ge— 
storben, 
Des sächsischen Geschlechtes letzter Zweig, 
Das glorreich ein Jahrhundert lang ge— 
herrscht. 
Als nun die Botschaft in das Reich erging, 
Da fuhr ein reger Geist in alles Voll, 5 
Ein neu Weltalter schien heraufzuziehn; 
Da lebte jeder längst entschlafne Wunsch 
Und jede längst erloschne Hoffnung auf. 
Kein Wunder jetzo, wenn ein deutscher 
Mann, 
Dem sonst so Hohes nie zu Hirne stieg, 10 
Sich, heimlich forschend, mit den Blicken 
maß. 
Kann's doch nach deutschem Rechte wohl 
geschehn, 
Daß, wer dem Kaiser heut' den Bügel hält, 
Sich morgen selber in den Sattel schwingt. 
Jetzt dachten unsre freien Männer nicht [15 
An Hub⸗ und Haingericht und Markgeding, 
Wo man um Esch' und Holzteil Sprache 
hält; 
Nein, stattlich ausgerüstet zogen sie 
Aus allen Gauen, einzeln und geschart, 
Ins Maienfeld hinab zur Kaiserwahl. 20 
Am schönen Rheinstrom, zwischen Worms 
und Mainz, 
Wo unabsehbar sich die ebne Flur
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.