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aus den Wagen. „Heil sei euch, liebe Landsleute,“ rief er, „voll—
bracht ist die Fahrt. Lagert an den Höfen; denn auf jenem Hügel
harren die Weisen des Gaues am Opferstein, den Bund fest zu machen,
damit ihr rechtlich werdet im Volke und eure Landlose gewinnet.“
Da rührten sich alle mit neuem Eifer und zogen auf trockenem Rasen—
wege zu Tal.
108. Walther und Vildegunde.
Von Franz Liunig.
ꝛr allgewaltige Hunnenkönig Etzel hatte auf einem
Kriegszuge an den Rhein und nach Gallien allen
Königen Tribut auferlegt und sich ihre Kinder als
Geiseln geben lassen.
Da Gunther, Gibichs Sohn, des Königs von
Worms, noch allzu jung war, so wurde Hagen von
Troja (Troneck, Tronei) vergeiselt; der Burgunder⸗
könig gab seine einzige Tochter Hildegunde, der
Westgotenkönig Alphart seinen Sohn Walther. Mit diesen Geiselkindern
kehrte Etel, froh der reichen Beute, in sein Land nach Ungarn heim.
Freundlich und milde pflegte er die gefangenen Königskinder; er selber
lehrte die Knaben die Handhabung der Waffen: die Kunst des Speer—
werfens, die Meisterschaft des Schwertes und die Rosse zu tummeln.
Das Mägdlein aber gab er in die Obhut der Königin Helke, und
Hildegunde wußte sich durch ihr kluges Betragen und ihre Geschicklich—
keit in allen Frauenkünsten in solche Gunst bei ihrer Herrin zu setzen,
daß sie zuletzt das Amt einer Schatzmeisterin erlangte. Walther und
Hagen aber wurden, nachdem sie das ritterliche Alter erreicht hatten,
Anführer des königlichen Heerbannes, und Etzel hatte seine Freude an
ihnen; denn so oft sie zum Kriege auszogen, immer kehrten sie mit
Sieg und Beute nach Hause zurück.
Nun geschah es, daß König Gibich zu Worms starb und Gunther,
sein Nachfolger, den Hunnen den Zins aufsagte. Sobald Hagen das
erfuhr, entfloh er aus der Gefangenschaft. Um nun zu verhüten, daß
Walther ebenso tue, schlug Etzel vor, daß er sich eine Gemahlin unter
den Töchtern des Landes wählen möge; er selber wolle ihn so aus—
steuern mit Land und Gütern, daß auch der reichste König froh sein
solle, ihn zum Schwiegersohne zu haben. Walther aber wußte diesem
Ansinnen klüglich auszuweichen und den Argwohn des Königs zu be—
seitigen. Wie früher mit Hagen, so zog er jetzt allein in den Krieg,
und im Kampfe gegen ein aufständiges Volk bewies er eine solche
Tapferkeit und Stärke, daß die Feinde vor seinem Schwerte flohen
und meinten, sie hätten den leibhaftigen Tod mit der Sense in ihren