Full text: [Band 7 = Klasse 3, 8. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 7 = Klasse 3, 8. Schuljahr, [Schülerband])

und Untreue, Scheiden und Meiden, Seligkeit und Schmerz finden 
darin ihre Stätte ebenso wie der Kampf der Jahreszeiten, Wald und 
Vogelgesang, der immergrüne Buchsbaum und der im Winter ent¬ 
laubte Felbinger (Weide). Das Volkslied steigt hinab in alle Tiefen 
des Menschenherzens und hinauf in alle Höhen des Menschengeistes; 
es scheut das Gebiet des Sinnlichen so wenig wie das der Fragen 
über Gott, Leben und Tod; es dient jedem Feste, jeder Bruderschaft. 
Den Bauernburschen und seine Maid geleitet das Lied bei ihrer Arbeit 
und ihren Lustbarkeiten; ebenso den Schneider, Schuster, Müller usw. 
Vom Landsknecht und Jäger, vom fahrenden Schüler und Schreiber, 
vom Bettelmönch wie vom reichen Kaufmann und vom Raubritter, 
der ihn: nachstellt, singt das Lied; es nimmt sich des Fürsten an, 
wie seines letzten Untertanen. Es gibt kaum ein geschichtliches Er¬ 
eignis, das irgendwo in Deutschland das Volksgemüt beschäftigt hat, 
das nicht im Volkslied behandelt wäre und zwar meist vom Stand¬ 
punkte beider Parteien aus. Denn das historische, beziehungsweise 
politische Volkslied vertrat oft die Stelle unserer Zeitungen, politischen 
Leitartikel und Parteiflugblätter. Schon dieser Umstand beweist, daß 
das Interesse der damaligen Menschen am Volkslied sehr oft mehr 
ein sachliches als ein künstlerisches war. Der Inhalt des Liedes 
packte die Hörer und trieb zum Singen an. Form und Melodie 
nahm man halb unbewußt, wenn auch mit Behagen und Befriedigung, 
als etwas Bekanntes, Selbstverständliches auf. 
Denn diese ganze ungeheure Menge von Liedern denke man sich 
nicht an starre unveränderliche Form gebunden, sondern in frischestem, 
lebendigstem Fluß. Das Lied blieb nicht, wie es war. Man sang 
aus überquellendem Lebensgefühl — und so diente auch das Lied 
dem Leben. Das Volkslied war herrenloses Gut, mit dem jeder geübte 
Sänger machte, was er wollte. Absichtlich oder unabsichtlich wurden 
die Lieder beim Weitersingen verändert, gekürzt, erweitert, mit An¬ 
spielungen versehen oder für einen bestimmten Zweck zugestutzt. 
Liebeslieder vertraten, wo man nicht schreiben konnte oder wollte, 
das Brieflein, Lieblingslieder dienten zur gegenseitigen Erkennung 
z. B. in der Nacht oder bei Gefangenschaft des einen Teils, politische 
Lieder ersetzten den An- und Absagebrief bei Fehden, die Botschaft, 
die Losung im Kampfe usw. Das Volkslied hatte eine „wandelbare, 
sich fortentwickelnde Natur" (Uhland). Dies ist auch der Grund, weshalb 
wir viele Lieder in so verschiedenen, manchmal verbesserten, auch 
leider oft verschlechterten Formen überkommen haben. Solange man 
die Volkslieder allgemein sang und jeder sie kannte, druckte man 
sie meist nicht; aus dieser Zeit haben wir oft nur den Anfang. All¬ 
gemeiner begann man erst sie zu drucken, als Strophen, Zeilen und 
Worte locker uub unsicher, Beziehungen und Anspielungen unklar, 
Wcicker, Lesebuch. A3. VII. Teil. 16
	        
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