5. Bildung und Gesittung.
Wilhelm Münch.
Eine Münze, die in Umlauf gesetzt wird, verliert nach und nach ihr
scharfes Gepräge und auch ihren schönen Glanz, aber ihren echten Metall¬
klang behält sie, und auch ihren ganzen Kurswert, bis sie etwa eines
Tages durch bestimmten Beschluß außer Kurs gesetzt wird. Es gibt auch
Worte, die zuerst wie Gold dem Ohre klingen und dabei einen scharf
bestimmten Begriffsinhalt bieten, die aber dann, wenn sie eine Zeitlang
in Umlauf gewesen sind, nicht bloß ihr deutliches inhaltliches Gepräge
einbüßen, sondern wirklicher Entwertung unterliegen und schließlich auch
dem Ohre ungefähr klingen wie gemeines Blech, statt wie gutes Silber
oder edles Gold. Ich glaube, unserm deutschen Worte „Bildung"
ist es beinahe so ergangen. Es entstand und kam in Umlauf mit schöner
Bedeutung in schöner Zeit. Es sollte etwas ganz anderes sein als Kennt¬
nisse, die nicht ins Innere wirken, als Manieren, die nichts mit Ge¬
sinnung zu tun haben, als mannigfaches Können, das nicht den ganzen
Menschen emporhebt, auch als Zucht, die vielmehr unterwirft als ent¬
wickelt, auch selbst als Tugendlehre und Lebensweisheit, sofern diese nur
übertragen und eingeflößt werden. Mit Bildung sollte ein Werden
des ganzen inneren Menschen bezeichnet werden, eine wertvolle persön¬
liche Gestaltung; das Wort, das man vom Werden körperlicher Form
zuerst gebraucht hat (edle Bildung hieß eine Zeitlang ungefähr soviel
wie schöne körperliche Erscheinung), wurde auf Inneres übertragen. Und
so deutete Bildung zugleich auf freies Werden des natürlich Angelegten
und auf ein harmonisch wohltuendes Ergebnis dieses Werdens. Zur
bloßen Natur verhält es sich wie Form zu rohem Stoff, und zu bloß
aufgepreßter Form wie organisch belebte Natur. Der Gebildete soll
den Begriff Mensch in einer höheren Verwirklichung darstellen: der
ersten Stufe der Befreiung von der Tierheit soll eine zweite folgen, eine
Art von zweiter Menschwerdung.
So Schönes und Volles hat man eine Zeitlang bei dem Worte
empfunden. Wie viel weniger sagt es jetzt der großen Mehrzahl derer,
die es in den Mund nehmen! Sie denken an ein gewisses Maß schul¬
mäßig erworbener Kenntnisse und Begriffe, an eine vom Volksmäßigen
sich entfernende Ausdrucksweise, an die Fähigkeit, sich in Welt und Ge¬
sellschaft zu bewegen, eine gewisse Weite des Gesichtskreises, ein gewisses
Verständnis der gegenwärtigen Kultur, etwas Belesenheit, etwas Sinn
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