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überflüssig in der Welt; denn gleichwie dieses Leben selbst nicht der
höchste Endzweck des Menschen ist, so sind auch die Lebensbedürfnisse
nicht das Höchste, sondern es gibt ein höheres Ziel, und dahin zielen
auch diese Künste, welche die geistige Bestimmung und Bildung des
Menschen befördern. Dies beweist schon ihr Ursprung, der sich aus der
Zeit des grauen Altertums herschreibt. Nicht etwa von der Not
wurden die Menschen zur Erfindung der schönen Künste getrieben, auch
nicht bloß von der Langenweile und der Vergnügungssucht, wie es uns
heutzutage wohl leicht bedünken könnte. Die Geschichte lehrt viel¬
mehr, daß alle diese Künste, die jetzt freilich nur noch ein Mittel der
Unterhaltung und des feineren Lebensgenusses für die meisten sind,
ursprünglich (man sollte es kaum glauben) ans der Religion und dem
Götterdienste hervorgegangen sind, und daß selbst die christliche Kirche,
namentlich die katholische, im Mittelalter vieles zu ihrer Ausbildung
beigetragen hat. Im Heidentum aber, namentlich bei den alten Griechen,
waren die schönen Künste recht eigentlich die Hauptsache des Gottesdienstes;
sie dienten nicht bloß, wie bei uns etwa eine Kirchenmusik oder das
Orgelspicl, dazu, die Gemeinde in eine feierliche Stimmung zu versetzen,
sondern die gottesdienstlichen Gebräuche bestanden selbst größtenteils
aus kunstvoll angeordneten Schauzeprängen, Schauspielen, Tänzen,
Musik usw., weshalb denn auch wiederum diese Künste selbst, z. B.
das Spiel und die Einrichtung ihrer musikalischen Instrumente an feste,
gottesdienstliche Vorschriften gebunden waren und gar nicht so willkürlich
verändert werden durften wie bei uns.
Alles dies hatte seinen Grund darin, daß sich jene alten Heiden
die Gottheit ganz anders dachten als wir. Ihre Götter bedeuteten
eigentlich nur die Kräfte und Mächte der uns umgebenden sichtbaren
Natur, durch welche dieses unser leibliches Leben sowohl erhalten als
auch bedroht wird. In der Stimmung eines ungewöhnlich erhöhten
Lebensgefühls glaubten sie daher auch den Gott unmittelbar selbst in
ihrer Brust zu fühlen, im Donner ihn zu höreu, im Wehen der Lüfte
zu empfinden, in der rieselnden Quelle zu vernehmen. Dieses Lebens¬
gefühl auszusprechen und auf allerlei Weise darzustellen, war ihnen Be¬
dürfnis, und darin liegt eigentlich der Ursprung der schönen Künste, in
welchen sich der Frohsinn des Lebens und das religiöse Bedürfnis auf
eine Weise verschmolzen, wie wir uns jetzt freilich kaum mehr deutlich
denken können, nachdem diese Künste zugleich mit ihren Göttern und
Religionen von ihrer anfänglichen Wörde entsetzt worden sind. Sie sind
nicht verschwunden; aber sie haben sich verweltlicht, unter das Volk, in
das tägliche Leben genlischt; denn dem Leben gehörten sie ja ursprüng¬
lich an. Sie verschönern das Leben und erwecken auch das Gefühl
seiner höheren Bedeutung, seines göttlichen Ursprungs; weiter aber be¬
gleiten sie unsere Andacht nicht, die sich alsbald über dieses ganze Gebiet