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vergrößern sich die Tropfen, die aus ihnen hervorgepreßt werden, als
wässere der Pflanze der Mund im Vorgefühl einer leckern Mahlzeit;
denn nun zeigt sich, daß die Köpfchen Drüsen sind, welche, von den
Bewegungen des Tierchens gereizt, ihre Ausscheidung mehren. Durch
den nämlichen Reiz beugen auch die Wimpern sich an ihrem Grund
und wenden ihre Spitzen gleich einem starrenden Lanzenwalde wider
ihre Beute, die in der Todesangst rastlose, aber vergebliche An¬
strengungen zur Befreiung macht. Schon hat eine der Nachbar¬
wimpern das zuckende Opfer am Nacken gepackt; eine zweite drückt
ihr rotes Köpfchen an seinen Rücken; zwei, drei kommen von den
Seiten hinzu; in wenig Minuten ist das Tierchen von einem Dutzend
Wimperköpfchen angefaßt; bald ist es von ihren Tropfen überflössen,
erstickt und ertränkt. Nun wird der tote Körper von den äußeren
Wimpern wie von Hand zu Hand nach innen fortgeschoben, bis er
in die Mitte des Blattes zu liegen kommt; nicht ein starres Pflanzen¬
blatt glauben wir vor uns zu sehen, sondern einen Polypen, der mit
kräftigen Fangarmen seinen Raub erfaßt und umschlingt; wir be¬
greifen es, wenn ein berühmter Naturforscher die Wimpern des Sonnen¬
taus geradezu als Fangarme bezeichnet hat. Im Verlaufe einer halben
Stunde hat sich die ganze Blattfläche gleich einer geschlossenen Hand
über die Beute zusammengefaltet und entzieht die weiteren Vorgänge
den Blicken des Beobachters. Wenn nach ein paar Tagen das Blatt
sich wieder öffnet, sind von dem getöteten Tier nur noch verstümmelte
Reste, Flügel, Beinschienen, Leibesringe übriggeblieben; alle Weich¬
teile sind verzehrt; die reichliche Flüssigkeit, in der das Opfer ertränkt
wurde, ist wieder eingesaugt, die Wimperköpfchen sind trocken. Erst
nach einiger Zeit, gewöhnlich schon am andern Tage, haben die Fang¬
arme sich wieder gewissermaßen in Schlachtordnung ausgelegt; nun
erscheinen auch die Tröpfchen wieder an den Drüsenköpfchen der
Wimpern; das Blatt ist dann gerüstet, eine neue Beute einzufangen.
Nichts ist spannender, nichts auch leichter zu beobachten; denn
der Sonnentau ist in unsern Torfsümpfen äußerst verbreitet, und
um ihn im Zimmer lebend zu erhalten, ist nichts weiter erforderlich,
als die Pflänzchen samt dem Torfmoos, in dem sie wurzeln, in einen
Teller zu setzen und das Moos feucht zu halten, im übrigen die
Pflanzen der Sonne auszusetzen und von Zeit zu Zeit mit kleinen
Insekten zu füttern. Man glaubt in der verkehrten Welt zu sein, wo
der Hase den Jäger verfolgt, das Lamm den Wolf frißt. Wir finden
es selbstverständlich, daß die wehrlose Pflanzenwelt alle Mißhandlung
und Verheerung von seiten der Tiere stumm über sich ergehen läßt,
und daß die Insekten, von der Made bis zur Raupe, von der Heu¬
schrecke bis zum Käfer, es am schlimmsten treiben. Und nun beobachten
wir ein Gewächs, eines der zartesten und unscheinbarsten, das sich