„Wir gedeihen prächtig bei dieser Verteilung von Luft und Licht,"
fiel bekräftigend das Geißblatt ein; „in kurzer Zeit werde ich groß
und stark sein und einen Stamm und Äste haben, ich werde ein Baum
fein wie du!"
„Und ich werde rote, schwellende Früchte tragen, wenn meine
Wurzeln dich erst verdrängt haben," triumphierte der Brombeerstrauch.
„Dann werden alle stillstehen, wenn ich blühe, und sagen: Wie schön
bist du! Und wenn ich Früchte trage, werden die Vögel zwitschern:
Wie gut bist du!"
„Nein," rief der Kirschbaum in zorniger Erregung, „nein, ihr
irrt! ihr irrt! Zu dem Unkraut gehörst du, aber nicht an meine .
Stelle, wilder Hopfen, wenn du dich faul und begehrlich nur von
der Sonne willst bescheinen lassen. Das Geißblatt kann mich nicht
ersetzen, weil es nicht selbständig stehen kann, und nie wird der Brom¬
beerstrauch schön sein wie ich im schneeweißen, duftenden Blütenkleide.
Ihr lehnt euch gegen die Mutter Erde und ihren Willen auf — aber
vergeblich. Sie ist stärker als ihr und wird euch zur Ordnung zwingen."
Aber die drei hörten nicht auf ihn.-
Im nächsten Jahre trug der Kirschbaum keine Früchte, im
folgenden keine Blätter mehr, nur kahle Zweigspitzen streckte er schlie߬
lich hilfeflehend aus dem Rankengewirr gen Himmel. Er war erschöpft.
Einem Sturm, der durch das Tal fuhr, konnte er nicht Widerstand
leisten; mit einem schmerzlichen Todesseufzer legte er sich zur Seite
— und mit ihm fielen Geißblatt und Hopfen, seine Neider, zu Boden
und begruben im Sturz auch den struppigen Brombeerstrauch.
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130. wie die Blumen wachen und schlafen.
Von Atrdimmd Cohn.
er Wechsel von Tag und Nacht greift wunderbar tief in das
^ Leben der Gewächse ein. Unter den Naturkräften, welche Be¬
wegungen in den Pflanzen erregen, ist das Licht die mächtigste.
Wenn die ersten Strahlen der Morgensonne über die Erde aus¬
strömen, dailn erwachen auch die Blumen vom nächtlichen Schlummer.
Sie richten die zum Boden geneigten Köpfchen empor, nehmen sorglich
ihre Gewänder aus dem grünen Knospenschrein, in dem sie diese
ivährelid der Nacht verborgen hatten, breiten sie auseinander und
lassen ihre glänzenden Farben in der Sonne spielen. Das Licht ist
es, das die Blumen erweckt; aber, wie das ja auch bei den Menschew
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