Full text: [Band 6 = Klasse 4, 7. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 6 = Klasse 4, 7. Schuljahr, [Schülerband])

„Wir gedeihen prächtig bei dieser Verteilung von Luft und Licht," 
fiel bekräftigend das Geißblatt ein; „in kurzer Zeit werde ich groß 
und stark sein und einen Stamm und Äste haben, ich werde ein Baum 
fein wie du!" 
„Und ich werde rote, schwellende Früchte tragen, wenn meine 
Wurzeln dich erst verdrängt haben," triumphierte der Brombeerstrauch. 
„Dann werden alle stillstehen, wenn ich blühe, und sagen: Wie schön 
bist du! Und wenn ich Früchte trage, werden die Vögel zwitschern: 
Wie gut bist du!" 
„Nein," rief der Kirschbaum in zorniger Erregung, „nein, ihr 
irrt! ihr irrt! Zu dem Unkraut gehörst du, aber nicht an meine . 
Stelle, wilder Hopfen, wenn du dich faul und begehrlich nur von 
der Sonne willst bescheinen lassen. Das Geißblatt kann mich nicht 
ersetzen, weil es nicht selbständig stehen kann, und nie wird der Brom¬ 
beerstrauch schön sein wie ich im schneeweißen, duftenden Blütenkleide. 
Ihr lehnt euch gegen die Mutter Erde und ihren Willen auf — aber 
vergeblich. Sie ist stärker als ihr und wird euch zur Ordnung zwingen." 
Aber die drei hörten nicht auf ihn.- 
Im nächsten Jahre trug der Kirschbaum keine Früchte, im 
folgenden keine Blätter mehr, nur kahle Zweigspitzen streckte er schlie߬ 
lich hilfeflehend aus dem Rankengewirr gen Himmel. Er war erschöpft. 
Einem Sturm, der durch das Tal fuhr, konnte er nicht Widerstand 
leisten; mit einem schmerzlichen Todesseufzer legte er sich zur Seite 
— und mit ihm fielen Geißblatt und Hopfen, seine Neider, zu Boden 
und begruben im Sturz auch den struppigen Brombeerstrauch. 
j 
130. wie die Blumen wachen und schlafen. 
Von Atrdimmd Cohn. 
er Wechsel von Tag und Nacht greift wunderbar tief in das 
^ Leben der Gewächse ein. Unter den Naturkräften, welche Be¬ 
wegungen in den Pflanzen erregen, ist das Licht die mächtigste. 
Wenn die ersten Strahlen der Morgensonne über die Erde aus¬ 
strömen, dailn erwachen auch die Blumen vom nächtlichen Schlummer. 
Sie richten die zum Boden geneigten Köpfchen empor, nehmen sorglich 
ihre Gewänder aus dem grünen Knospenschrein, in dem sie diese 
ivährelid der Nacht verborgen hatten, breiten sie auseinander und 
lassen ihre glänzenden Farben in der Sonne spielen. Das Licht ist 
es, das die Blumen erweckt; aber, wie das ja auch bei den Menschew 
16*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.