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ihm ebenso ruhig: „Sehn Se mal, bat geit Se gar nix an." Der
Viehhändler entfernte sich brummend. Meine Unruhe wuchs.
Ich saß noch immer an meinem Tischchen und wartete.
Es schlug sechs Uhr vom Turm. Da erschien in der Straße,
die aus das Wirtshaus zuführte, ein kleines Mädchen, das acht, neun
Jahre zählen mochte. Es hielt in der Rechten ein weißes Zettelchen.
Ich sprang auf und eilte ihm entgegen. Ich riß ihr, ohne sie weiter
zu fragen, das Stückchen Papier aus der Hand. Richtig, es war die
Nummer 731. Das Mädchen war gekommen, um den Gewinn ab¬
zuholen. Sie schien etwas enttäuscht zu sein, als ich ihr im Saal den
Blumentopf zeigte. Sie hatte, wie sie mir erzählte, bestimmt geglaubt,
daß ihr Gewinn ein landwirtschaftliches Gerät, ein Spaten, eine Harke,
eine Schaufel, wäre. Die Kleine nahm den hübschen Stock in den
Arm; ich begleitete sie hinaus. Und es kam wie von selbst, daß ich
mit ihr ging; ich wollte sie bis an ihre Wohnung bringen.
Wieder war's ein so herrlicher Sommerabend wie gestern. Der
Wochenwagen fuhr ein. Die Kühe kamen, sich mit den Schwänzen die
Fliegen wegklatschend, getrieben von der langen Peitsche des jungen
Hüters. Um die Linde an der Kirche gaukelten Hunderte von Kohl¬
weißlingen. Und durch diesen kleinstädtischen Sommerabendfrieden
schritt neben mir die Kleine. Es war ein entzückendes Bild: sie ging
an meiner Rechten, im rechten Arme das blütenüberfüllte Bäumchen
tragend. Die Sonne glitt über ihre hellblonden Haare, deren Zöpfe
nach polnischer Art rund um den Kopf gelegt waren. Es war ein so
zierliches Ding, das ganze Persönchen. Und während sie sorgfältig
das Gewächs trug, schaute sie im Plappern zu mir aus. Und was sie
mir alles erzählte! Anna Hamann habe gestern das rote Kleid an¬
gehabt, in diesen Tagen solle sie selber zu Hans Saling, dem Milch¬
bauern ihrer Eltern, nach Osdorf, und wie sehr sie sich darauf freue.
Und dann bekam ich von ihrer Schule und von ihren Lehrern zu
hören, von Onkeln und Tanten und Freunden und Verwandten. So
schritten wir munter übers Pflaster, als wären wir seit Jahren die
besten Bekannten. „Ja, aber wie heißt du denn, das weiß ich noch
nicht," fragte ich. „,Emma Stuhr, und wie heißt du?'" Ich nannte
ihr meinen Namen.
„Sind wir nun bald bei deinem Hause, Emma?"
Ehe wir es erreichten, erkundigte ich mich, wer denn eigentlich
das Stämmchen gewonnen habe. Und die kleine Emma erwiderte mir,
daß das Los ihrem Bruder gehört habe, der, vom Seminar beurlaubt,
jetzt zu Hause wohne, weil er sehr krank sei und immer zu Bett liege
und der wohl noch heute sterben müsse, setzte sie mit naiver, ja mit
wichtiger Stimme hinzu. „Was, dein Bruder muß heute sterben?
Ist er so schwer krank? Und das erzählst du mir erst jetzt, Emma?"