4 
2. Was ist eine Tundra ? — Wer das Glück hat, wie ich, seit 
Jahren an einem unserer großen märkischen Seen zu wohnen, dem 
ist ein Vogel lieb geworden, der zuzeiten dort das Landschafts 
bild geradezu aufdringlich beherrscht: die Wildgans. Schnurgerade 
geht der Baähndamm mit der letzten blassen Rainflora und ein paar 
welkenden Sonnenblumen am Wärterhäuschen durch den brausenden 
Kiefernwald. Hinter den Kiefern liegt auf der einen Seite der 
blaue See. Dahin wandern sie, endlose, schnatternde KReilstreifen 
diefer Gänse. Lange schon hört man ihr Geplapper, ehe noch 
der Kronenrand der schwarzen Bäume sie entläßt. Dann sind sie 
da, Schallen werfend wie eine Wolke, endlos. Oft ist die Spitze 
de Keils mit ihrer ewig wechselnden Vorfliegerin schon jenseits 
hinter die Kiefern hinabgetaucht, und hier rinnt und rinnt noch 
immer der Doppelarm der beiden Gabeln nach. Nun denn; die 
meisten dieser Wildgänse kennen die Tundra ganz genau. Alljährlich 
wandert die Saatgans im Sommer dorthin, um zu brüten. Im 
Herbst kommt sie dann in ungezählten Geschwadern zu uns zurück, 
um im Winter oft noch viel weiter nach Süden zu gehen, vielfach 
bis nach Afrika. In der rauhen Zeit des Jahres ist es ihr in der 
Tundra zu kalt. Denn diese Tundra ist heute hoch, hoch im Vorden: 
die Mooswüste des Polargebietes. Die Tundra umgürtet den Nord⸗ 
pol, ein letzter Kümmerversuch des Lebens. 
3. wer die Schneekoppe besteigt, der sieht die Waldgrenze 
unter sich schwinden und endlich auch den steppenartigen Gras— 
teppich mit feinen blauweißen Anemonen und roten Primeln. Zuletzt 
flbt nur noch an den grauen Verwitterungsflächen des Glimmer— 
schiefers die Flechte, hier goldgelb, hier bräunlich, das letzte, selber 
schon beinahe steinhaft erstarrte Leben, das sich anklammert. Ein 
solcher nackter Fels aber, endlos von ewigen Eismassen bedeckt, 
ragt der Pol des ganzen Erdballs, einem ungeheuren Hochgebirgs⸗ 
gipfel vergleichbar, in den kalten Raum. Auch gegen ihn hin 
schwindet, weit nördlich allerdings erst vom deutschen Gebiet, nahezu 
auf der Breite des Nordkaps, wo Europa im ganzen endet, der 
Baumwuchs. Jene Ciliputanergestalt kryptogamischer Gewãchse, die 
schon in unserem Walde merkbar wird, wird noch ein Stück weiter 
dort zur vollkommenen Herrscherin. Moose und Flechten überziehen 
unermeßliche Wüsteneien als Charakterpflanze. Die Birke kriecht 
noch hier und da dazwischen, aber auch sie ist ein Zwerg geworden, 
ein armer verkrüppelter Eskimo, dessen „Krone“ kaum ein paar 
Zentimeter über den Boden ragt, während der „Stamm“ die Dicke 
eines Zündhölzchens weist. 
4. Sieht man auf diesen Pflanzenwuchs, der längst nicht mehr 
ein Kleid, sondern kaum noch ein färbender Bodenanstrich dieser 
de ist, so sollte man das Tierleben dort völlig erloschen wähnen. 
Gerade umgekehrt aber ist es, als hefte sich eine uralte, eine unver⸗ 
wůstliche Liebe ungezählter Tiere an diesen unwirtlichen Fleck. Wie 
439
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.