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VIII. Legenden.
die Alte das sah, fragte sie nach der Ursache, da erzählte er ihr, daß er es
zur Buße mit sich herum trage und nachts zu seinem Kissen brauche. Er
habe den Herrn beleidigt, denn als er einen armen Sünder auf dem Gange
nach dem Gericht gesehen, habe er gesagt, diesem widerfahre sein Recht.
Da fieng die Frau an zu weinen und rief: „Ach, wenn der Herr ein
einziges Wort also bestraft, wie wird es meinen Söhnen ergehen, wenn sie
vor ihm im Gericht erscheinen."
Um Mitternacht kamen die Räuber heim, lärmten und tobten. Sie
zündeten ein Feuer an, und als das die Höhle erleuchtete, und sie einen
Mann unter der Treppe liegen sahen, gerieten sie in Zorn und schrien ihre
Mutter an: „Wer ist der Mann? haben wir's nicht verboten, irgend
jemand aufzunehmen?" Da sprach die Mutter: „Laßtihn, es ist ein armer
Sünder, der seine Schuld büßt." Die Räuber fragten: „Was hat er ge¬
than?" Und riefen: „Alter, erzähle uns deine Sünden." Der Alte erhob
sich und sagte ihnen, wie er mit einem einzigen Worte schon so gesündigt
habe, daß Gott ihm zürne, und er für diese Schuld jetzt büße. Den
Räubern ward von seiner Erzählung das Herz so gewaltig gerührt, daß sie
über ihr bisheriges Leben erschraken, in sich giengen und mit herzlicher
Reue ihre Buße begannen. Der Einsiedler, nachdem er die drei Sünder
bekehrt hatte, legte sich wieder zum Schlafe unter die Treppe. Am Morgen
fand man ihn tot, und aus dem trocknen Holz, auf welchem sein Haupt lag,
waren drei grüne Zweige hoch emporgewachsen. Also hatte ihn der Herr
wieder in Gnaden zu sich aufgenommen "). Brüder Grimm.
80. St. Martin als Soldat.
In einem strengen Winter, wo viele Menschen vor Kälte und Hunger
starben, ritt Martin *), der damals in Gallien in einer römischen Legion
diente, mit einer Abteilung seiner Reiterei nach Amiens^). Unter dem
Stadtthore begegnete ihnen ein Bettler, der halb nackt war und vor Frost
am ganzen Körper zitterte. Er bat die Vorübergehenden kläglich um Hilfe,
aber niemand achtete des Unglücklichen. Nur Martin ward von Mitleid
durchdrungen; da er aber bereits all sein Geld unter die Armen ausgeteilt
hatte, besaß er nichts mehr, als seine Waffen und seine Kriegskleidung.
Sofort nahm er seinen Soldateumantel von der Schulter, zerteilte ihn mit
dem Schwerte und reichte die eine Hälfte dem Armen, während er die
andere über seine Schultern warf.
In der darauf folgenden Nacht erschien der Heiland dem Jüngling
im Traume. Er hatte die Hälfte des Mantels um sich und sprach zu den
Engeln, die ihn umgaben: „Mit diesem Gewände hat mich Martin, noch
ein Neulings) in der christlichen Religion, bekleidet und vor Kälte ge¬
schützt." Diese herrliche Erscheinung machte auf den jungen Krieger einen
so tiefen Eindruck, daß er sich sogleich am andern Tage taufen ließ, wo er
gerade neunzehn Jahre alt war.