Die Erziehung des. jüngeren Scipio.
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Drei Eigenschaften waren es, die er bei Scipio, anknüpfend an die in dem
Jüngling schlummernden Triebe, zu voller Blüte entwickelte: Tapferkeit, Ent-
haltfamkeit in sinnlichen Genüssen und Hochherzigkeit in Geldsachen. — Per¬
sönliche Tapferkeit war in Rom noch mehr als in jedem andern Staate das
erste Erfordernis für einen Mann, der nach der Anerkennung seiner Mitbürger
strebte. Ein vorzügliches Mittel die Körperkräfte zu stählen, Unerschrockenheit
und Kaltblütigkeit in Gefahr sich anzueignen erkannte Polybios in der Jagd.
Gerade diese aber liebte sein junger Freund leidenschaftlich und Polybios wurde
nun sein eifriger Jagdgenosse. Wenn andere junge Männer sich um Prozesse
bemühten und sich auf dem Forum dem Volke bekannt zu machen suchten, ging
Scipio auf die Jagd; seine Jagdabenteuer und Heldentaten wurden aber doch
bald in der Stadt ebenfalls besprochen. Wie sich Scipio auf diese Weise eine
wunderbare Geschmeidigkeit und Stärke des Körpers aneignete, so war die voll-
kommene Gesundheit seines Leibes und seines Geistes auch eine Folge der
Enthaltsamkeit von sinnlichen Genüssen, die ihm Polybios vor allem anempfahl
und die zuerst an ihm bemerkt wurde. Es war ihm allerdings in Rom leicht
gemacht dadurch aufzufallen. Die allgemeine Wohlhabenheit war nach Eroberung
des mazedonischen Reiches sichtlich gestiegen und hatte zusammen mit dem Gefühle
der Sicherheit vor auswärtigen Feinden einen Luxus und einen Hang zu Aus-
schweisungen unter den jungen Leuten erzeugt, der ins Maßlose ging. Die
hellenische Leichtlebigkeit und Leichtfertigkeit hatte nur zu schnell Eingang
gefunden. Die jungen Leute vergeudeten Kraft und Geld in leichtfertiger
Gesellschaft, in Schmausereien und Trinkgelagen. Scipio hielt sich fern; das
kostbare Gut der Gesundheit und Kraft, dessen er sich erfreute, ließ ihn gern
auf solche Genüsse verzichten. Unter dem Einflüsse seines Beraters war sein
Streben vielmehr auf die schöne Harmonie eines in sich geschlossenen Charakters
gerichtet. Und in einem Zeitraum von vielleicht fünf Jahren war der Ruf
seiner Züchtigkeit und Enthaltsamkeit volkstümlich geworden. — Eine noch
größere Ausnahme von der Regel bildete er durch seine Uneigennützigst und
Hochherzigkeit in Geldsachen. Er tat hier vieles, was in Rom geradezu unerhört
war. Als er z. B. die Mutter seines Adoptivvaters beerbte, gab er den ganzen
Prunk der reichen Matrone, den sie bei feierlichen Aufzügen zu entfalten pflegte:
ihren prächtigen Wagen samt dem Maultiergespann, die goldenen und silbernen
Opfergeräte und Trinkgefäße, die Menge der begleitenden Diener und Dienerinnen
und den ganzen Schmuck — das alles gab er seiner vom Vater geschiedenen
Mutter Papiria, die im Verhältnis zu dem Glänze ihres Geschlechtes recht ein-
geschränkt leben mußte.
So sah Polybios das Werk seiner Erziehung mit dem schönsten Erfolge
gekrönt und lebte fortan mit Scipio 40 Jahre lang in nie gestörter Freundschaft.