119
Der Geistliche hielt eine ergreifende Rede. Zuerst redete
er den Entseelten an und sprach: „Auf dem Wege bist du gefallen.
Wer weiß, wohin dein Herz sich sehnte, welches Herz dir entgegen¬
schlug! Möge der, der alles kennt und alles heilt, Ruhe und
Frieden in die Seelen der Deinigen senden! Unbekannt bist du
gefallen von unbekannter Hand. Niemand weiß, woher du kamst,
wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang und deinen Ausgang
kennt, hat dich Bahnen hinansteigen lassen, die unser Auge nie
mißt. Zu welcher Kirche du gehörtest, welche Sprache du redetest
— wer mag den stummen Mund fragen? Du stehst jetzt vor ihm,
der über alle Kirchen thront, den alle Sprachen nennen und doch
nicht zu fassen vermögen. — Erhebt mit mir eure Hände!" fuhr
der Geistliche zu den Versammelten fort und alle hoben die Hände
empor; dann sprach er wieder: „Wir erheben unsere Hände zu
dir, o Allwissender! Sie sind rein von Blutschuld. Hier im Lichte
der Sonne bekennen wir: Wir sind rein von dieser Tat. Die
Gerechtigkeit aber wird nicht ausbleiben. Wo du auch weilest,
der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst, das Schwert
schwebt unsichtbar über deinem Haupte und es wird fallen
und dich zerschmettern. Kehr um, solange es noch Zeit ist!
Häufe nicht Frevel auf Frevel; denn einst, wenn sie ertönt, die
Posaune des Gerichts . . . ."
Da — plötzlich hörte man von der Straße herauf das Post¬
horn erschallen. Das Lied erklang: „Denkst du daran?" Alles
schwieg und hielt den Atem an. Aus der Mitte der Versammelten
stürzte ein junger Mann nieder und rief: „Ich bin's!" — Nachdem
man ihn aufgehoben hatte, gestand er reumütig seine Tat, wie er
in der Stadt das Geld des Herrn, bei dem er diente, verspielt habe,
wie er den Fremden, den er nur niederwerfen wollte, ermordet
habe, wie die Töne des Posthorns ihn verwirrt, wie er seine Hand
brennen gefühlt habe, da er sie zum Himmel erhob, und wie jetzt
dieselben Töne des Posthorns ihm das Geständnis abpreßten.
Still, ohne laute Klage, nur mit leisem Weh im Herzen,
hatte sich der Zug den Berg hinanbewegt; mit zitternder Seele,
Tränen in den Augen, laut das Unheil beklagend, kehrten viele
heim. Zwei Menschen waren auf ewig aus der Genossenschaft
der Menschen geschieden.
Bertold Auerbach.