Full text: [Band 3, [Schülerband]] (Band 3, [Schülerband])

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Der Geistliche hielt eine ergreifende Rede. Zuerst redete 
er den Entseelten an und sprach: „Auf dem Wege bist du gefallen. 
Wer weiß, wohin dein Herz sich sehnte, welches Herz dir entgegen¬ 
schlug! Möge der, der alles kennt und alles heilt, Ruhe und 
Frieden in die Seelen der Deinigen senden! Unbekannt bist du 
gefallen von unbekannter Hand. Niemand weiß, woher du kamst, 
wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang und deinen Ausgang 
kennt, hat dich Bahnen hinansteigen lassen, die unser Auge nie 
mißt. Zu welcher Kirche du gehörtest, welche Sprache du redetest 
— wer mag den stummen Mund fragen? Du stehst jetzt vor ihm, 
der über alle Kirchen thront, den alle Sprachen nennen und doch 
nicht zu fassen vermögen. — Erhebt mit mir eure Hände!" fuhr 
der Geistliche zu den Versammelten fort und alle hoben die Hände 
empor; dann sprach er wieder: „Wir erheben unsere Hände zu 
dir, o Allwissender! Sie sind rein von Blutschuld. Hier im Lichte 
der Sonne bekennen wir: Wir sind rein von dieser Tat. Die 
Gerechtigkeit aber wird nicht ausbleiben. Wo du auch weilest, 
der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst, das Schwert 
schwebt unsichtbar über deinem Haupte und es wird fallen 
und dich zerschmettern. Kehr um, solange es noch Zeit ist! 
Häufe nicht Frevel auf Frevel; denn einst, wenn sie ertönt, die 
Posaune des Gerichts . . . ." 
Da — plötzlich hörte man von der Straße herauf das Post¬ 
horn erschallen. Das Lied erklang: „Denkst du daran?" Alles 
schwieg und hielt den Atem an. Aus der Mitte der Versammelten 
stürzte ein junger Mann nieder und rief: „Ich bin's!" — Nachdem 
man ihn aufgehoben hatte, gestand er reumütig seine Tat, wie er 
in der Stadt das Geld des Herrn, bei dem er diente, verspielt habe, 
wie er den Fremden, den er nur niederwerfen wollte, ermordet 
habe, wie die Töne des Posthorns ihn verwirrt, wie er seine Hand 
brennen gefühlt habe, da er sie zum Himmel erhob, und wie jetzt 
dieselben Töne des Posthorns ihm das Geständnis abpreßten. 
Still, ohne laute Klage, nur mit leisem Weh im Herzen, 
hatte sich der Zug den Berg hinanbewegt; mit zitternder Seele, 
Tränen in den Augen, laut das Unheil beklagend, kehrten viele 
heim. Zwei Menschen waren auf ewig aus der Genossenschaft 
der Menschen geschieden. 
Bertold Auerbach.
	        
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