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noch eins zu trinken und sage mir auch deinen Namen; ich möchte
dir gern ein Gastgeschenk geben, an dem du Freude haben sollst."
Odysseus schenkte ihm ohne Zögern wieder und dann zum
dritten Male ein und der Unhold trank dreimal den mächtigen
Becher leer. Dann sprach der listige Griechenheld: „Zyklop,
du hast mich nach meinem Namen gefragt. Recht gern will ich
ihn dir nennen; aber gib mir nun auch das Gastgeschenk, das du
mir versprochen. Mein Name ist Niemand; Niemand nennen
mich Vater und Mutter und alle meine Bekannten." „Nun denn",
rief der tückische Wüterich, „den Niemand will ich zuletzt ver¬
speisen, das soll dein Gastgeschenk sein!" Nach diesen Worten
taumelte der berauschte Zyklop rückwärts nieder und sank in
tiefen Schlaf.
Jetzt zog Odysseus schnell den Pfahl hervor und drehte die
Spitze im Feuer um, bis sie glühend war und knisternd Funken
sprühte. Dann faßten seine Gefährten mit an, und mit einem
plötzlichen, herzhaften Stoße bohrten die Männer die feurige
Stange dem Zyklopen ins Auge. Mit grauenhaftem Geheul
fuhr der geblendete Riese empor, riß sich den blutbesudelten Pfahl
aus der Augenhöhle und schleuderte ihn weit hinweg. Vergeblich
tastete er überall nach seinen Feinden umher, die voll Todesangst
sich in den fernsten Winkel der Höhle verkrochen. Ringsum er¬
dröhnten die Felswände von seinem Gebrüll.
Die Zyklopen in der ganzen Nachbarschaft wurden dadurch
aus dem Schlafe geweckt. Erschrocken eilten sie von allen Seiten
vor seine Höhle und fragten: „Was schreist und brüllst du denn so
entsetzlich, Polyphemus?" „Niemand," rief der Riese, „Niemand
bringt mich um." „Nun, wenn dir niemand etwas zuleide tut,
so bist du sicherlich mit Wahnsinn geschlagen; dagegen aber können
wir dir nicht helfen. Rufe den Meerbeherrscher Poseidon, deinen
Vater, um Beistand an!" Uud eilig, als fürchteten sie selber die
Wutanfälle des Polyphemus, zogen sie wieder ab. Der schlaue
Odysseus aber lachte in seinem Herzen und freute sich der
gelungenen List.
Indessen gab's noch immer eine große Gefahr zu bestehen.
Als der Morgen angebrochen war, erinnerte das Blöken der Herde
den blinden Zyklopen daran, daß die Zeit gekommen sei, auf die
Weide zu gehen. Stöhnend vor Schmerzen tappte er in der Höhle