Full text: [Band 7 = dritte Klasse, achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Band 7 = dritte Klasse, achtes Schuljahr, [Schülerband])

306 
„Bin ganz deiner Meinung, Peter," meinte der alte Schwer- 
Hans, „reiß sie an!" 
Jetzt zog der Waldhüter ein Hakenmesser aus seinem Mantel und 
riß ein großes Dreieck in der Mutter Leib. Sie erschauerte in Schmerz 
und Todesangst und schüttelte ihre Zweige so gewaltig, daß der Schnee 
herabfiel auf die beiden Mörder. 
„I glaub', die merkt's, daß es ihr ans Leben geht," sprach der 
Waldmeister, den Schnee von seinem Mantelkragen schüttelnd. 
Sie gingen weiter, rauchend nach den andern Opfern spähend. 
Die Mutter schwieg einige Zeit; sie konnte es noch nicht fassen, daß 
sie sterben sollte. Ihr Schrecken löste sich zuerst in Weinen. Wie 
Wasser quollen die Harztropfen an ihrem Leib hinunter, wurden aber 
rasch von der Kälte erfaßt und zum Stillstand gebracht. Nachdem sie 
sich ausgeweint, begann sie, die Menschen zu verwünschen. „O dieses 
blutschänderische Geschlecht!" rief sie aus. „Wie grausam geht es mit 
den anderen Geschöpfen um, und doch sind wir alle, Steine, Pflanzen, 
Bäume, Tiere und Menschen, Kinder eines Vaters, der im Himmel 
ist! Aber nichts ist diesem gottlosen Geschlecht heilig, seitdem es in 
seinem Hochmut dem Ewigen und Allmächtigen gleich sein wollte und 
aus dem Paradiese vertrieben wurde. Alle Geschöpfe leiden unter ihm 
und seufzen nach Erlösung von ihrem Tyrannen, Mensch genannt. 
Überall trägt dieser die eigene Qual hin und sucht sein elendes Dasein 
zu fristen, indem er seine Mitgeschöpfe quält und tötet. Auch unter 
sich selbst leben diese Menschen wie Hunde und Katzen und machen 
sich das Leben sauer, wo und wie sie können. Und das ist unser 
Trost, daß sie die Qualen, die sie uns antun, an sich selber wieder 
rächen. Auch sterben müssen sie, diese Quälgeister," fuhr, ihre Zweige 
schüttelnd, die Mutter fort, „hinsiechen und sterben. Tausend Krank¬ 
heiten, die wir anderen Geschöpfe gar nicht kennen, suchen sie heim. — 
Wo die Menschen nicht hinkommen, da sterben die Bäume den schönsten 
Tod, den Tod des Alters. Der Sturm wirft sie, die schwach gewordenen, 
in den Staub, wo sie modern und neuen Pflanzen Leben geben. — 
Das allein ist mir gräßlich, von Menschenhand zu sterben. O, wie 
diese Axthiebe schmerzvoll durch alle Fasern gehen, und wie die Säge 
knarrt in Mark und Bein, bis wir umsinken, zum Tode verwundet! 
— Bald werden sie kommen, mein Kind, die Holzmacher, mit großen 
Äxten und scharfgezähnten Sägen, und deine Mutter zu Tode martern. 
— Hilf mir beten, und ich selbst will alle Zweige zum Himmel richten, 
auf daß der Herr der Natur, dessen Boten die Stürme sind, mir einen 
solchen Boten sendet, der mich hinabstürzt in den Fallbach!" 
Mir ging der Mutter Weh durch die Seele, und ich weinte und 
betete mit ihr um einen schnellen, natürlichen Tod. 
Unser Flehen ward erhört. Wenige Tage, nachdem die zwei
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.