Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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Iphigenie könnte ihre Sendung nicht erfüllen, wenn nicht ihre 
Seele von den Stürmen der Leidenschaft, die in dem Hause der 
Tantaliden gewütet haben und foxtwüten, völlig unberührt geblieben 
wäre. Sie lebt in jenem Gemütszustände einer stillen und tief nach 
innen gerichteten Fassung, für welche ein grofser’deutscher Mystiker 
einen schönen Ausdruck gefunden hat, der auch in unserer Dichtung 
nicht fehlt. Der Meister Eckart1) hat diese Windstille der Begierden, 
diese gottergebene Willensruhe die Gelassenheit genannt. 
In ihrer ungetrübten Klarheit erkennt sie die Schicksale ihres 
Hauses; sie sieht, wie alles gekommen ist und so kommen 
musste, da zügellose Affekte den gewaltigen Willen mächtiger Menschen, 
die nichts hemmte, wider einander in Aufruhr gebracht hatten. 
Ungeheure Kraft, gepaart mit ungeheurer Verblendung! Von Ge¬ 
schlecht zu Geschlecht wachsen durch ihre Forterbung die Leiden¬ 
schaften und mit ihnen die Unthaten! 
Um das Übel zu heilen, muss mau es bis auf den Grund 
erkennen. So klar erleuchtet sich Iphigenie die Geschichte ihres 
Hauses, so erzählt sie dieselbe dem Könige; sie thut es unfreiwillig, 
denn ihre Herkunft sollte wie ihre Sendung ihr Geheimnis bleiben. 
Betroffen von dieser Grösse ihrer Herkunft und von dem Ton der 
Buhe und Ergebung, womit sic dieselbe bekennt, sagt Thoas: „Du 
sprichst ein grosses Wort gelassen aus.“ 
Nun enthüllt sie die Unthaten ihres Geschlechts, so wie sie 
geschehen sind, bis auf den Grund, aus dem sie hervorgingen, bis 
in das innere Elend, das sie zur Folge hatten. Diese Erzählung 
Iphigeniens von der schrecklichen Vergangenheit ihres Hauses er¬ 
scheint als ein bewunderungswürdiges Werk Goethescher Dichtkunst. 
Sie schildert, wie die Greuel sich überbieten, sie malt den eigenen 
Grossvater, den entsetzlichen Atreus, wie er ahnungslos an dem 
eigenen Sohn seine Bachgier mit wollüstiger Grausamkeit sättigt. 
Und von dem Erbfeind ihres Hauses, dem grausen Tliyestes, bei 
jenem Mahle, dem die Sonne nicht mehr leuchten wollte, hat sie 
menschliche Züge bewahrt, plötzlich erwachte, rührende Begnügen 
der Vaterliebe. Sie verschweigt nichts, sie beschönigt nichts, sie 
bekennt sich zu diesem Geschlechte der Bruder- und Kindermörder, 
die Enkelin des Atreus, der dem Tliyestes die Kinder geschlachtet 
Ü Um 1260 geboren, trat in den Dominikaner-Orden, lehrte und 
predigte in Strassburg, Frankfurt und Köln, starb um 1328.
	        
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