Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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Sparsamkeit, durch welche die Deutlichkeit der Naturgestalten vermehrt 
wird. Durch eine Ausstattung mit vielen überflüssigen Merkmalen 
würde die Deutlichkeit verdeckt werden, wie denn auch solche überflüssige 
Merkmale und Eigenschaften der freien Entwickelung der Lebensfähigkeit 
hemmend entgegentreten und eine Belastung bilden würden. 
Auch die vollkommensten Werke der Menschenkunst kennzeichnen sich 
durch eine ähnliche Sparsamkeit; sie stellen mit möglichst wenigen 
Mitteln möglichst viel dar. In der Peterskirche zu Rom sind die 
Mauern nicht dicker, die Verziernngsglieder nicht stärker, als zu einen: 
solchen Gebäude nötig ist. Die Geistesstärke des Grundrisses und die 
Willenskraft der Ausführung werden in dem ungeheuern Werke angestaunt. 
Das aber, was darin als vollkommen gefällt, ist Sparsamkeit und 
Ebenmaß, so daß alles ohne plumpe Verschwendung entbehrlicher Mauern 
kühn und frei emporragt. Die Alpen und das Weltmeer erregen durch 
die ungeheuere Fülle der Naturkräfte Erstaunen. Aber der Kenner der 
Natur wird dadurch ästhetisch entzückt, daß diese großen Massen durch 
einfach sparsame Gesetze der Attraktion und Adhäsion verbunden sind. 
In den: Weltall ist allenthalben Fülle der Kräfte, aber Sparsamkeit 
der Anlvendung zur Erreichung des Zlveckes. Allenthalben ist ferner 
Einheit, sich selbst gleicher Typus. In jeden: Geschlechte der drei 
Naturreiche und allenthalben ist unendliche Manchfaltigkeit; kein Blatt 
ist dem andern gleich, kein Gesicht den: andern ganz ähnlich, und der 
Spielraum dieser Manchfaltigkeit liegt in der Zusammensetzung minder 
wesentlicher Teile. Alle diese Gesetze, in: Größten und im Kleinsten, in der 
Geisterwelt und der Körperwelt, in Formen und Substanzen, sind har¬ 
monisch in das Ganze des Weltalls zusammenfließend. 
Doch nicht allein die Vernunft, auch das Gefühl und die Phantasie 
lverden durch die Natur angeregt, und hierin liegt eine neue, unerschöpf¬ 
liche Quelle von Poesie und geistigem Genuß. Wir leihen der Natur 
unsere Empfindung, sei es Freude, Trauer, Liebe, Haß, Hoffnung oder 
' Sehnsucht : denn solche Empfindungen finde,: wir in den bald heitern, 
bald trüben, bald freundlichen, bald wilden Naturscenen ausgesprochen. 
Auch die einzelnen Naturdinge können uns als Ausdruck menschlicher 
Stimmungen, Tugenden und Zustände gelten. Die Eiche, die Eypresse, 
die Lilie, die Rose, die Nachtigall und unzählige andere Tiere und Ge¬ 
wächse sind als Symbole allgemein angenommen. Der Dichter ist nicht 
verlegen, fast für jedes kleine oder große Natnrding immer neue Deu¬ 
tungen zu finden. Durch eine solche vermenschlichende Auffassung wird
	        
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