45)3
Für ein Ding, sage ich, hat Homer gemeiniglich nur einen Zug
Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff',
bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte, schwarze
Schiff: weiter lässt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein.
Aber wohl das Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes*
macht er zu einem ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus
welchem der Maler fünf, sechs besondere Gemälde machen müsste,
wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte. Zwingen den
Homer ja besondere Umstände, unseren Blick länger auf einen ein¬
zelnen körperlichen Gegenstand zu heften, so wird dem ungeachtet
kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte,
sondern er weiss durch unzählige Kunstgriffe diesen einzelnen Gegen¬
stand in eine Folge von Augenblicken zu setzen, in deren jedem
er anders erscheint, und in deren letztem ihn der Maler erwarten
muss, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter ent¬
stehen sehen Z. B. will Homer den Wagen der Juno sehen lassen,
so muss ihn Hebe vor unseren Augen Stück für Stück zusammen¬
setzen. Wir sehen die Bäder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel,
Kiemen und Stränge, nicht sowohl wie es beisammen ist, als wie
es unter den Händen der Hebe zusammen kommt. Auf die Räder
allein verwendet der Dichter mehr als einen Zug und weiset uns
die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die Schienen von
Erz, die silberne Nabe, alles insbesondere. Man sollte sagen, da
der Räder mehr als eines war, so musste in der Beschreibung
ebenso viel Zeit mehr auf sie gehen, als ihre besondere Anlegung in
der Natur selbst mehr erforderte.
Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen,
so muss sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung
Stück für Stück umthun, das weiche Unterkleid, den grossen Mantel,
die schönen Halbstiefel, den Degen; und so ist er fertig und ergreift
das Scepter. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Hand¬
lung des Bekleidens malt; ein anderer würde die Kleider bis auf
die geringste Franse gemalt haben, und von der Handlung hätten
wir nichts zu sehen bekommen.* Und wenn wir von diesem Scepter,
welches hier bloss das väterliche, unvergängliche Scepter heisst, so¬
wie ein ähnliches ihm an einem anderen Orte bloss das mit goldenen
Stiften beschlagene Scepter ist; wenn wir, sage ich, von diesem
wichtigen Scepter ein vollständigeres, genaueres Bild haben sollen*