Full text: [Teil 5 = Untertertia, [Schülerband]] (Teil 5 = Untertertia, [Schülerband])

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I. Epische Poesie. 
\22, Die Bürgschaft. (1798.) 
Friedrich v. Schilier. Sämtl. Werke. Stuttgart und Tübingen. 
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, 
schlich 
Dämon, den Dolch im Gewände; 
Ihn schlugen die Häscher in Bande. 
„Was wolltest du mit dem Dolche, 
sprich!" 
Entgegnet ihm finster der Wüterich. — 
„Die Stadt vom Tyrannen be¬ 
freien!" — 
„Das sollst du am Kreuze bereuen!" 
2. „Ich bin", spricht jener, „zu 
sterben bereit 
Und bitte nicht um mein Leben; 
Doch willst du Gnade mir geben, 
Ich flehe dich um drei Tage Zeit, 
Bis ich die Schwester dem Gatten 
gefreit; 
Ich lasse den Freund dir als Bürgen; 
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen." 
3. Da lächelt der König mit arger List 
Und spricht nach kurzem Bedenken: 
„Drei Tage will ich dir schenken; 
Doch wisse: wenn sie verstrichen, die 
Frist, 
Eh' du zurück mir gegeben bist, 
So muß er statt deiner erblassen, 
Doch dir ist die Strafe erlassen." 
4. Und er kommt zum Freunde: 
„Der König gebeut, 
Daß ich am Kreuz mit dem Leben 
Bezahle das frevelnde Streben; 
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, 
Bis ich die Schwester dem Gatten 
gefreit; 
So bleib du dem König zum Pfande, 
Bis ich komme, zu lösen die Bande." 
5. Und schweigend umarmt ihn der 
treue Freund 
Und liefert sich aus dem Tyrannen; 
Der andere ziehet von dannen. 
Und ehe das dritte Morgenrot scheint, 
Hat er schnell mit dem Gatten die 
Schwester vereint, 
Eilt heim mit sorgender Seele, 
Damit er die Frist nicht verfehle. 
6. Da gießt unendlicher Regen 
herab, 
Bon den Bergen stürzen die Quellen, 
Und die Bäche, die Ströme schwellen, 
Und er kommt ans Ufer mit wandern¬ 
dem Stab, 
Da reißet die Brücke der Strudel 
hinab, 
Und donnernd sprengen die Wogen 
Des Gewölbes krachenden Bogen. 
7. Und trostlos irrt er an Ufers 
Rand; 
Wie weit er auch spähet und blicket 
Und die Stimme, die rufende, schicket, 
Da stößet kein Nachen vom sichern 
Strand, 
Der ihn setze an das gewünschte Land, 
Kein Schiffer lenket die Fähre, 
Und der wilde Strom wird zum Meere. 
8. Da sinkt er ans Ufer und weint 
und fleht, 
Die Hände zum Zeus erhoben: 
„O hemme des Stromes Toben! 
Es eilen die Stunden, im Mittag 
steht 
Die Sonne, und wenn sie niedergeht 
Und ich kann die Stadt nicht erreichen, 
So muß der Freund mir erbleichen." 
9. Doch wachsend erneut sich des 
Stromes Wut, 
Und Welle auf Welle zerrinnet, 
Und Stunde an Stunde entrinnet;
	        
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