Full text: Griechische Geschichte

Pädagogische Thätigkeit des Sokrates. 
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kenntnis der Wahrheit ganz unbekümmert zu leben. Wie ein Vater oder 
ein älterer Bruder redete er den Leuten zu, die er traf, alten unb jungen, 
sie sollten doch ihre Bemühungen um Stärke und Schönheit des Leibes 
und um Reichtum fahren lasten und dagegen einmal darauf denken, ihre 
Seele zu veredeln. Daß die Tugend etwas Besseres als das Geld sei, 
sagte er, könne man schon daraus sehen, daß niemand durch sein Geld 
sich Tugend verschaffen könne, während doch umgekehrt die Tugend im 
stände sei den Menschen zum Besitze von Geld und allen möglichen an¬ 
dern Gütern zu verhelfen. Er wandte sich vorzugsweise an Jünglinge 
und junge Männer, weil er bei diesen mehr Eingang zu finden hoffte als 
bei Leuten gereiften Alters, deren Angewöhnungen und Neigungen schon 
zu fest eingewurzelt seien. Und wo er sodann einen Menschen traf, dessen 
Anlage etwas Gutes zu versprechen schien, da erforschte er zu allererst, 
ob derselbe geneigt sei über sich und sein Verhältnis zu Gott nachzu¬ 
denken, von der Herrschaft der natürlichen Triebe und unklaren Mei¬ 
nungen sich zu befreien und sein Leben so einzurichten, wie die Vernunft 
es gebietet: dazu ermunterte er denn diejenigen, bei welchen dieses Ver¬ 
langen noch schlummerte, und wußte vorzüglich durch geschickte Frageu 
einen jeden dahin zu leiten, daß er selbst die Wahrheiten, die Sokrates 
ihm beizubringen gedachte, als eigene Überzeugung anssprach. Als er 
seinen ältern Sohu Lamprokles, der ihm nachmals durch einen frühzeitigen 
Tod entrissen wurde, einst gegen die Mutter erbittert sah, redete er ihn 
an: Sage mir doch, mein Kind, hast du schon Menschen gesehen, die man 
undankbar nennt? — O ja. — Und hast du dir auch gemerkt, was sie 
thun, daß man sie so nennt? — Allerdings! Wer Gutes empfangen hat 
und sich nicht dankbar dafür erweist, während er es doch thun könnte, 
den heißt man undankbar. — Du glaubst also wohl, der Undankbare 
gehöre in die Klasse der Ungerechten? — Freilich. — Hast du dir die 
Sache etwa so vorgestellt, daß Undankbarkeit gegen Freunde ungerecht sei, 
Feinden gegenüber aber recht? — Ich meine, es sei jeder ungerecht, der 
von Freund oder Feind Gutes empfangen hat und sich nicht bestrebt 
seine Dankbarkeit dafür zu beweisen. — Demnach wäre der Undank wohl 
unter allen Umständen eine Ungerechtigkeit? — Ja. — Und also wäre 
jeder um so ungerechter, je größer die Wohlthat ist, die er empfangen 
hat und nicht mit Dankbarkeit erwidert? — Ja. — Nun wo finden wir 
denn größere Wohlthaten, die ein Mensch dem andern erweist, als die 
den Kindern von ihren Eltern erwiesenen? Sie geben den Kindern das 
Leben, das größte aller Güter, in welchem alle andern Freuden und Ge- 
Roth, Griechische Geschichte. 3. Auflage. 21
	        
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