Full text: Lesestoff der sechsten Klasse (Untersekunda) (Teil 1, [Schülerband])

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65 die Kräfte des Geistes erhöhen, werden sie bei dem Tauben abgestumpft, 
und wenn die Blindheit weicher und zärtlicher macht, so macht die Taubheit 
oft mißtrauisch, störrig und hart. Ein trockener Egoismus bemächtigt sich seiner, 
und indem die zarten Töne des Gefühles nicht mehr in seine Ohren dringen, 
stirbt allmählich das Mitgefühl in seinem Herzen aus- 
60 In dem Umgänge mit andern büßt der Blinde nur wenig ein, der 
Taube fast alles. Für ihn sind die Mienen des Redenden immer nur ein 
höchst unsicherer Dolmetscher und der Anblick einer anmutigen Gestalt ist 
ein höchst unvollständiger Genuß beim Mangel der Rede, die sich der Taube 
umsonst zu erraten quält. Man setze noch hinzu, daß schöne Gestalten selten, 
65 schöne Gedanken und gefällige Reden aber unendlich häufiger sind. Diese 
vernimmt der Blinde und zu dem, was er mit den Ohren vernimmt, schafft 
seine Einbildungskraft eine analoge Gestalt. Was jedem begegnet, der einen 
schönen Gesang hört ohne den Mund zu sehen, aus dem er hervorgeht, daß 
sich ihm ein Bild von Schönheit vor die Seele stellt, das begegnet dem Blinden 
70 bei jedem freundlichen Worte, bei jedem schönen und geistvollen Gedanken, 
bei jedem Tone einer melodischen Stimme. Und alle diese Dinge finden sich 
häufig genug. Schöne Seelen in mißgestalteten Körpern, anmutige Worte auf 
Lippen, die niemand küssen mag, sind keine so seltene Erscheinung. In diesem 
Falle gewinnt der Blinde ganz offenbar, so wie der Taube ganz offenbar 
76 verliert. Dieser sieht nur die häßliche Gestalt, was aber die häßliche Gestalt 
vergessen macht, das bleibt ihm unbekannt. Will man sagen, daß ihn der An¬ 
blick der Schönheit dafür entschädigt? Mir scheint es nicht so. Und sieht nicht 
auch der Blinde die Schönheit mit seinem inneren Auge, während er zu¬ 
gleich den sie beseelenden Geist genießt, den der unglückliche Taube höchstens 
80 nur ahnt ohne ihn je mit sicherm Erfolge aus der Gestalt herauszudeuten? 
Indessen Pflegen Menschen, denen ihre Bedürfnisse und Geschäfte 
weder Zeit noch Hang zu freier Mitteilung übrig lassen, Gelehrte, die das 
Leben aufopfern um nach dem Tode ein metaphorisches Leben zu führen, 
alle die, welche die Erde nur als einen Marktplatz und die Menschen als Käufer 
85 und Handelsleute betrachten, endlich auch alle an Geist und Herzen verwahr¬ 
losten Menschen, alle diese Pflegen die Taubheit mit Resignation zu ertragen. 
Für sie wäre die Blindheit allerdings ein weit größeres Übel und durch die 
Taubheit verlieren sie wenig. Zahlen und Wörter finden sie auch in ihren 
Büchern wieder. 
90 Und so darf man sich nicht eben wundern, daß sogar die Taubheit ihre 
Lobredner gefunden hat. Zwar was hat man nicht alles gelobt! Ein Mann, 
der selbst nichts weniger als ein Narr war, pries die NarrheiU), so wie der 
*) Erasmus von Rotterdam (1467—1536). Die Schrift ist betitelt: Gloria« 
encomium Erasmi declamatio.
	        
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