Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

Pfiff, den man auf Eisenbahnen hört, ertönte; dreimal erhebt sich dieser 
merkwürdige Ton: am frühen Morgen, zu Mittag und beim Sinken des 
Abends. Diesen nannten wir den „Mittagszug". Der Urheber dieses langen, 
angsterfüllten Seufzers ist die Cicada manifera, die man nicht sehen und nicht 
auffinden kann; sie gibt das regelmäßige und untrügliche Signal für das 
so merkwürdige, unbeschreibliche Getöse, das in allen möglichen Tönen die 
ruhige Luft des Waldes wie ein großes unsichtbares Concert durchzittert. > 
Man sieht nichts, man bemerkt keine Bewegung, kein Ast rührt sich, kein j 
Laub rauscht, da schrillt plötzlich der lange Pfiff, bald dem Ohre in un¬ 
mittelbarer Nähe, bald in weiter Ferne, wie der Ruf eines Weckers; die 
Vormittagsstille, wo man kaum das Summen eines Jnsectes -gehört Hatz 
ist zu Ende; nun tönt in allen Lauten, in allen Tönen ein Jubellied der 
schaffenden Sonne, die den Zcnith gefunden, entgegen. Dem langen Rufe j 
folgen einzelne Töne, gleichsam das Stimmen der Instrumente, die Laute 
mehren sich, es rauscht, es zirpt, es klingt und schmettert, es kommt Tact 
in die Melodie, und das große Unisono des Lebens schwillt in vollen Accorden 
durch die Hallen des weiten grünen Domes. Der Eindruck ist überwältigend- 
Dieser vom vollen Lebensdufte durchzogene Wald, dieser geheimnißvolle Schatten, 
unter dem die Pflanzen ihre Mittagsruhe halten, und dazu dies merkwürdige 
Concert brachten in mir jenen Jubel der entzückten Bewunderung hervor, 
der meine Brust seit dem ersten Schritte auf dem neuen Boden beseligend 
durchwogte. Solche Stunden des Entzückens über die Natur hatte ich höchst 
selten, so vollkommen wie jetzt, nie erlebt. Als ich durch die dichten Hallen 
schritt, ließ ich in meiner Erinnerung die Bilder meiner vielen Reisen an 
mir vorüberziehen und kam zum Schluffe, daß der Mensch, der Sinn für die 
Natur hat, drei große Bilder sehen müsse, um zu begreifen, was die Erde * 
Erhabenes bietet: einen Morgen in den Alpen, auf hohem Felsenkamme 
in der reinen Luft, fern vom Getriebe der Welt, umringt vom herrlichen > 
Farbenschmelz der reichen Alpenflora, vom tiefblauen Enzian, von der fröhlichen j 
Alpenrose, von Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht, von Nelken und Veilchen, 
umgeben von der kühlen Dämmerung, in die nach und nach die einzelnen ; 
Lichtschichten hineinleuchten, vor denen am silbernen Firmamente die Sterne 
erlöschen, bis ein mächtiger Hauch des Erwachens über die Erde zieht, die 
Nebelkufen in den Thälern verschwinden, das glühende Gold im Osten sich 
mehrt, die Firne und Schneefelder im Rosenlichte immer kräftiger erglühen, 
die Tannen den Thau von den Aesten schütteln und plötzlich die Sonne über 
die Zacken der Riesengebirge emporleuchtet, ihre Strahlen wie frohe Kunde 
in die grünen Thäler auf die schimmernden Seen sendend, und aus den 
Tiefen als Dank der Sang der Vögel, der Klang der Glocken jubeln^ 
emporsteigt; — den heißen Mittag in den paradiesischen Tropen mit der 
Ueberfülle an Duft und Farben, an Leben und Klang, an Wonne des Daseins, 
wie sie die culminirende Sonne schafft, und wie sie mein Herz jetzt mit 
Dank bewunderte; — und den Abend in der Wüste, wenn der feurige, 
versengende Ball blutroth in den Dünsten der Fata morgana am unermeßlich 
fernen Horizonte im glühenden Sandmeere verschwindet, der Himmel in ! 
Purpur, die weite Fläche in Gold- und Silberstaub gehüllt ist, die Farben 
allmählich schwinden, das Firmament sich demantrein spannt, die kreisenden 
Geier wie dunkle Phantome auf dem blaß schimmernden Hintergründe schweben, 
das Kameel wie ein wandernder Schatten, wie ein Gespenst lautlos dahin 
zieht, die „Gläubigen", nach Mekka gewendet, ihr monotones Abendlied singen,
	        
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