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herrschte, im Thale und auf den Hügeln. Dem neugetränkten Gefilde entquoll
Stärkung und Wohlgeruch. Alles schien erneut und verjüngt, als käme die
Natur so eben erst aus den Händen ihres liebevollen Schöpfers, und die
Bewohner des Feldes blickten mit dankbarer Freude zu dem fernen Gewölk
empor, das ihren Fluren Segen und Gedeihen gebracht hatte.
Stürme versüßen die Luft. Aus dunkelm Gewölk steigt des Himmels
Segen zur Erde hernieder. Den Sohn der Erde bilden Leiden und Kampf,
daß er die Frucht der Veredlung in sich selbst hervorbringe.
3. Menschen und Kinder.
(Von Fr. Jacobs.)
Die meisten Menschen bleiben immer den Kindern gleich, die sich vor
unzähligen Dingen fürchten, die gar nicht gefährlich sind, und dagegen in
wirklichen Gefahren ahnungslos scherzen und schlummern. Die kleinen Ge¬
fahren des Lebens wehren sie ängstlich ab, und sehen sich, da diese Gegen¬
stände nicht in ihrer Gewalt sind, von ihrer Furcht bald hier, bald dort hin
gerissen. Aber gegen die große Gefahr, die uns jenseits des Lebens droht,
und die zu besiegen in unserer Gewalt steht, scheinen sich die Wenigsten zu
rüsten. Sie denken nicht an das, was doch unvermeidlich kommt, oder, wenn
der Gedanke sich aufdringen will, verschließen sie die Augen, und betäuben sich.
4L Venedig.
(Von H. Leo.)
Venedig liegt im adriatischen Meerbusen, gewissermaßen ein Riesenschisf
in einem riesigen Hafen, vor Anker. Seine engen Straßen, die dadurch, daß
sie bloß für Menschen bestimmt sind, daß nie weder Wagen noch Lastvieh
darin gesehen werden, ein gewisses Ansehen von Häuslichkeit bekommen, als
seien es nur Gänge desselben Gebäudes, lassen sich ohne Zwang dem innern
Raume eines Schiffes vergleichen, in welchem der herrliche Marcusplatz als
Saal, die Riva de' Schiavoni *) als Verdeck erscheinen. Vom hohen Glocken-
thurme, des Schiffes würdigem Hauptmast, aus gesehen, erscheinen die andern
entferntem Inseln in den Lagunen nur als Boote und Schaluppen, die zum
Dienste des großen Fahrzeuges bestimmt sind.
3. Der Mond ein Bild des Lebens.
(Von Fr. Jacobs.)
Am westlichen Himmel schwamm der Mond, wie ein leichter Aachen,
in dem Widerscheine des Abendrothes. Die Kinder zeigten ihn dem Vater.
„Wie schön und zart ist er," sagte Alwin, „so sieht er nicht immer aus!"
— „Er ist in seiner Kindheit," erwiderte der Vater. „Mit jedem Tage
wird er wachsen, und sein Licht wird zunehmen, bis er uns die ganze, volle
Scheibe zeigt. Vielleicht werden ihn bisweilen Wolken bedecken, und er wird
sein Angesicht gleichsam verhüllen. Nach einiger Zeit wird er wieder abnehmen
und kleiner werden, bis er endlich ganz verschwindet, um ein vollkommenes
Bild des menschlichen Körpers zu werden." — „Ich verstehe nicht, was
du meinst", sagte Theodor. — „O ja," fiel Alwin ein, „ich weiß, was
du sagen willst: der Mensch nimmt auch zu und ab; er glänzt eine
Z Riva de Schiavoni heißt die Ufer-Straße am Meer in der Nähe des
Marcusplatzes.